Prolog I: Träume Shanghaier Nächte

Das weiße Rauschen der Zukunft verschwindet mehr und mehr, und in immer deutlicheren Zügen erscheinen die Bilder, die Klänge dieser neuen Realität, der Abflug findet bald statt. So vieles, auf das ich bereit bin, mich hingebungsvoll zu stürzen - das chinesische Abenteuer. So vieles, über das ich mich bereits jetzt zu freuen wage: Ich freue mich auf die Flugreise, der 3-stündige Aufenthalt am Moskauer Flughafen Scheremedjewo, das endgültige Durschschreiten der Tore in die Volksrepublik China, die Ankunft im Apartement, das Kennenlernen der anderen Teilnehmer aus aller Herren Länder, das Erkunden der Straßen Shanghais, den Bund, die Museen, die Altstadt, die Antiquitätenläden, die Parks; ich freue mich auf das Fotografieren des Gesehenenen, der Gebäude, Orte und Menschen; ich freue mich allein schon auf das Gefühl, präsent zu sein, Präsenz in dieser anderen Welt, den spezifischen Geruch wahrzunehmen, die besondere Temperatur auf meiner Haut zu spüren, die Shanghaier Soundkulisse zu hören.

Es verhält sich komisch mit dieser Vorfreude, überhaupt mit dem Wesen des Bevorstehenden, denn egal wie sehr ich mich in die Zukunft zu träumen wage, wie sehr ich schon diese ideale Welt zu genießen suche, am Ende wird das Auftreten an diesen Orten so überraschend sein, so plötzlich und überragend, dass ich im ersten Moment verwirrt dastehen werde. Wie ich bereits in meinem Dokumentarfilm "Nippon" die ersten Eindrücke Japans in träumerischen Bildern aufgenommen habe, so, genauso seltsam und unwirklich erscheint mir die Welt dann, als würde ich nur weiter in meinen Tagträumen wandeln, als wäre die Reise nur in meinem Geist, in meiner Erinnerung - und doch so verwirrend wahrhaft. Nichts von ontologischer Enttäuschung, außer vielleicht  unter Einfluss  des Jetlags und dahingehend eines niedrigeren Dopamin-Spiegels im Blut. Aber inwieweit ich dieses Reise-Anfangstief erleben werde, vermag ich durch meine nebligen Träume noch nicht zu deuten.
Ich freue mich auf Chongming, meiner Einsatzstelle als Lehrer, auf die Yang Zi Highschool, auf die Lehrer, auf die Schüler, auf mein eigenes Zuhause mit Küche, Bad und Waschmaschine; ich freue mich darauf, die Insel zu erkunden, laufen und trainieren zu gehen, mir von hilfsbereiten Schülern, die ihre alltägliche Freizeit des Lernens für mich opfern, die Stadtseite der Insel zeigen zu lassen und mit ihnen möglicherweise Baskettball zu spielen, ich freue mich auf den Unterricht, auf Englisch und mein eigenes Chinesisch-Lernen, auf meine Abenden voller Reflektion und sicherlich auch Heimweh (die Sehnsucht bleibt der süßlichste Schmerz), auf das Musikhören und Einfangen der allumfassenden Moments in meine Erinnerung, mit Musik, die ich für China ungehört aufhebe, von Bands wie The Mars Volta, Viza und anderen, ich freue mich auf die Lektüre, die ich extra für China bereit halte: André Bretons und Paul Éluards surréalistische Gemeinschaftsschrift "Die unbefleckte Empfängnis" ("L'immaculée conception"), zudem eine Einführung in die Kulturphilosophie,  die ich von sehr guten Freunden zum Geburtstag erhalten habe, sowie meine Travelguides und ihre wertvollen Informationen...
Ich freue mich auf die Vorbereitungen für die Wochenendtrips in Shanghai und im Gelben Gebirge Huangshan, auf den Besuchs meines Dads und unserer gemeinsamen Zugreise nach Shaolin, ich freue mich auf all die geheimnisvollen und seltsamen Begebenheiten, die sicherlich nicht warten werden, mir wie streunende Hunde zu erscheinen, auf die vielen Menschen, die ich hoffentlich kennen lerne, auf die Erforschung der Mentalität des Volkes, das gemeinsam China bewohnt und ihm sein Facettenreiches Gesicht schenkt.

Aber vor allem freue ich mich auf dieses rauschartige Gefühl der Wirklichkeit, das mir die Surréalité Chinas bieten kann.

Bei meinen bisherigen Vorbereitungen traf ich im Internet auf ein Interview mit einem jungen, aufstrebenden chinesischen Regisseur. Ich war auf der Suche nach Spuren der surréalistischen Bewegung seit 1924 in China, besonders in Shanghai, da die Stadt zu der Zeit kulturell flourierte und mit der französischen Konzession und den anderen Kolonisten einen starken westlichen Einfluss erhielt. Der Regisseur sagte, dass der Surréalismus die neue Realität Chinas  (im Jahre 2010) sei. Das klingt für einen Surréalisten mehr als magisch. (Allerdings: Überschneidungen des Surréalismus in den 1920ern und 30ern mit Shanghai, geschweige den China konnte ich bisher nicht ausfindig machen.)

Die Aufnahmegeräte: meine Spiegelreflexkamera Canon EOS 1000D, mein iPod als Medium der Musik mit Verknüpfung zum emotionalen Kern meiner Erinnerungsspeicherung, mein Tagebuch und das Internet mit diesem Blog, für die schriftlich-poetische Fixierung und Reflektion.
Ich möchte es zur Gewohnheit machen, jeden (größeren) Post mit Musik zu verbinden aufgrund unserer "vibratory realit[ies]" (Serj Tankian).

Noch zwei Wochen vor meiner Abreise, Muse verführt mich mit dem Album "The Resistance" (2009) und dessen revoltierenden, symphonischen Science-Fiction-Soundtrack. Inwiefern sich der Titel "United States of Eurasia (+ Collateral Damage)" auf Orwells "1984" bezieht, spielt hierbei erstmal keine Rolle - es bleibt trotzdem zufällig eine großartige Hymne passend für den diplomatischen Charakter meiner Reise:





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