ANATOMIE//: Die Gewöhnung an das Außergewöhnliche


Zur Erinnerung, wie meine erste Erfahrung mit dem Schneiden an einer Leiche war, der möge diesem Link folgen: ANATOMIE//: Präparierkurs.

Ein Monat kann ein verdammt langer Zeitraum sein, in der sich die Wahrnehmung ändert und die ersten Eindrücke eine besondere Verarbeitung erleben und Gedankenzüge bilden. Denn seit mehr als einem Monat ist unserer Körperspender im Präparierkurs eine Parallelwelt, in die wir eintauchen und uns zu orientieren lernen; eine Welt, die statt Sonne, Mond und Sterne durch Muskeln, Bindegewebszüge und Gefäß-Nerven-Straßen organisiert ist. Dabei hat sich nun eine Alltäglichkeit eingestellt, die nicht nur das Präparieren angeht und den Umgang mit einer Leiche, sondern auch mit dem tagtäglichen Lernen und sogar den regelmäßigen äußerst anstrengenden mündlichen Prüfungen. Es haben sich einige Aspekte aufgetan, die bis zum jetzigen Zeitpunkt eine Erwähnung wert sind, Dinge, die sich über die ersten Erfahrungen geblendet und eine weitere Ebene der Reflektion aufgebrochen haben. Da dies mehr ein Nachtrag ist, werde ich stichwortartig auf diese unterschiedlichen "Winkel der Beobachtungen" eingehen: das wachsende Ästhetikgefühl, die Grenzerfahrung der Lernparanoia und die ultimative Frage, ob ich selber meinen Körper für die Anatomie spenden würde.


Ästhetik
Das Erste, was mir seit kurzem nun richtig bewusst wurde, ist die Veränderung des Blicks: ein durchaus zu erwartendes Upgrade des alltäglichen Lebens. Während man den Menschen vorher als Menschen einfach dastehen ließ, der Kleidung trägt und die Merkmale aufweist, die wir ihm allgemein äußerlich zuordnen -  d.h. mit Nase, Ohren, Hals, Kopf, Brust, etc. -, hat sich der Blick nun für das Detail geschärft. Wir sind uns den Formen, die den Menschen ausmachen, bewusster, denn wie Röntgenstrahlen lassen sich die einzelnen Schichten bei einem Menschen nun virtuell "sehen", das Gefühl der menschlichen Ästehtik tritt in den Vordergrund. Der Hals einer Frau (mein Lieblingsbeispiel) hat noch mehr an Schönheit und Erotik gewonnen, als es vorher der Fall war - paradoxer Weise nämlich, denn warum hat das nüchterne Detail für den Musculus sternocleidomastoideus, der quer vom Hinterkopf über den Hals zum Brustbein zieht, und die auf ihr liegende und daher gut sichtbare Vena jugularis externa so eine Bedeutung für die Schönheit gewonnen? Es ist wohlmöglich dasselbe Gefühl, das auch wunderbare Literatur oder Filme bieten, wenn sich herausstellt, dass wir im Detail von einer Verdichtung sprechen können, die uns genial und ästhetisch geschickt verwoben erscheint.

Interessanter Weise hat sich im Gespräch mit meiner Shanghainesischen Bekannten, eine Kunstlehrerin, herausgestellt, dass sie in der chinesischen Kunstakademie die Anatomie des Menschen auch an Leichen studiert hat. Die ästhetischen Studien von Muskeln und Knochen geschahen tatsächlich an Körperspendern in Kooperation mit der medzinischen Universität. Mir ist bisher nicht bekannt, dass gleiches in Deutschland möglich ist.

Lernparanoia
Zuletzt sprach ich von der "epischen Lernmotivation", die mit diesem anatomischen Pioniergeist einhergeht. Sicherlich gibt es Studenten, die akribisch und atemlos diese aufrecht erhalten können, doch für die meisten gilt auf der anderen Seite ein Erschlaffen der Lernmotivation, wie ein Muskel, der dauernd kontrahiert wird. In der kurzen Zeit so viel Neues zu lernen, ein Gefühl für den Körper zu gewinnen, für die Strukturen, worauf es zu achten gilt - all diese Aspekte machten das Lernen für das erste Testat unheimlich chaotisch. Dies führte - aus Angst zu versagen für die Leidenschaft, die sich manifestiert - zu einer sogenannten Lernparanoia, wie sie ein Freund vortrefflichst beschrieben hat. Die Wochenenden werden nicht mehr in Gesellschaft mit anderen verbracht: Jetzt gibt es nur die Bücher und die Modelle, um das theoretische Wissen in den eigenen Schädel zu schlagen. Dies kann martialische Züge wie ein militärisches Boot-Camp annehmen. Was mir jedoch vor allem aufgefallen ist und worin ich von mindestens einer Person bestätigt wurde, ist die asoziale Kapsel, die sich um einen bildet: Man definiert sich diese Parallelwelt und zieht sich von allen gesellschaftlichen Bindungen zurück, der Fokus schärft sich nur für das eine - Anatomie -, ein Tunnelblick, der asketisch im Elfenbeinturm eingenommen wird. Wenn das Testat bestanden ist und die Spannungen nachlassen, fühlt es sich wie ein Rausch an, wieder in Kontakt mit lebenden Menschen zu treten.

"It's physical. If you keep on writing for three years, every day, you should be strong. Of course you have to be strong mentally, also. But in the first place you have to be strong physically. That is a very important thing. Physically and mentally you have to be strong." - Haruki Murakami
Haruki Murakami, japanischer Bestsellerautor und seit Jahren Anwärter auf den Literatur-Nobelpreis, sprach sich in diesem Zitat zwar darüber aus, dass das Schreiben einen starken Körper und Geist braucht, und dabei bewusst auf den physischen Aspekt hinweist. Doch ohne große Einschränkungen lässt sich "Schreiben" auch mit "Lernen", besonders in den Touren, die wir drehen müssen, auswechseln. Murakami, der selber regelmäßig Marathon läuft, hat mich dahingehend inspiriert, trotz der Lernparanoia das körperliche Training nicht zu vernachlässigen: Es sollte in der Tat sogar ein gewichtiger Teil vom Lernprozess sein, integriert in den Plan zur Entspannung als auch zur Stärkung der geistigen Fähigkeiten. Eigentlich ist diese Aussage auch nur eine moderne Interpretation einer viel älteren Formel, die da heißt:
Mens sana in corpore sano. Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper.

Würde ich meinen Körper spenden?
Dies ist nun tatsächlich einer der wichtigsten Fragen, die man sich in Selbstreflexion zum Präparierkurs zu stellen beginnt. Woche für Woche schneiden die Studenten am Körperspender, Pietät wird bewahrt, doch die Assoziationen können nicht für sich behalten werden: Humor wird in Kauf genommen, was auch gut so ist. Wir sehen, wie ein vollständig erhaltener menschlicher Körper Schritt für Schritt seine Form verliert, weil wir tiefer und immer mehr ins Detail diesen sezieren. Viele zweifeln aufgrund dieser Beobachtung an der Motivation, seinen Körper nach dem Tod zu spenden. Tatsächlich würde keiner der Studenten, mit denen ich darüber gesprochen habe, dies tun. Ich bin anscheinend einer der wenigen, der an sich nichts dagegen hätte. Ich selber bin nicht mehr, die Überreste werden nicht gerade in einem Mausoleum mumifiziert für die Ewigkeit vergöttert, also haben sie keine Bedeutung mehr. Warum sollte nicht der letzte Akt auf Erden sein, meinen Körper genauso zu spenden, wie es für mich getan wurde? Sind die meisten Studenten so egoistisch und (plötzlich) so religiös verankert, dass ihr Körper als Ganzes bestehen bleiben sollte, um so schnell wie möglich beerdigt zu werden - bin ich hingegen so selbstlos, altruistisch, bescheiden für die Wichtigkeit meines ganzheitlichen Körpers?

Nein, sicherlich nicht. Ich würde aber aus einem anderen Grund meinen Körper nicht spenden.

Meine Person ist nicht mehr, aber weil der Mensch immer auch ein Mitsein hat, also mit anderen Menschen in Beziehung steht, die im besten Falle weiterleben, muss ich darüber nachdenken, was für meine Angehörigen das Beste wäre nach meinem Ableben. Die Körperspender werden teilweise für ein bis zwei Jahre gelagert und vorbereitet, um für den Präparierkurs genutzt zu werden. Ein langer Zeitraum, in dem die Angehörigen mit einem großen Verlust in ihrem Leben auskommen müssen, ohne jedoch im Ritual der Beerdigung oder ähnliches einen Abschluss zu finden. Ich habe bereits den Gottesdienst am Ende eines Präparierkurses einer anderen Universität erlebt, und die Angehörigen gesehen, die selbst dann noch nach dieser langen Zeit tief am trauern waren. Sei es auch nur ein Symbol oder ein geschaffener Ort, um der verstorbenen Person nahe zu sein, dieser Abschluss ist für den Menschen wichtig. Junge Leute, die keine direkten Erfahrungen mit dem Tod haben, können sich die seelischen Qualen nur in Theorie vorstellen - was bei Weitem nicht genug ist.

Wenn ich weiß, dass meine Angehörigen ein Problem mit meinem Verbleib als Körperspender haben und diese sich nicht umstimmen lassen, so entscheide ich mich dagegen, aus Liebe.

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