Shibui Rock'n'Roll Izakaya


Wenn es ein Wort gibt, das ich auf dieser Reise am liebsten benutzt und gerne für meinen eigenen Sprachgebrauch mitgenommen habe, dann ist es shibui: 渋い. Ein Wort, das als direkte Übersetzung nichts anderes meint als "geschmackvoll", wenn auch gleich mit "bitter" assoziiert wird. Geschmackvoll und doch zugleich bitter, klingt nach etwas, das nichts für kleine Mädchen ist, vielleicht schon einige Jahre auf dem Buckel hat, und dabei weiter reift. Und vor allem, die Trends der Zeit überdauert hat. Ein guter Whisky zum Beispiel.

So ist es auch mit der Bedeutung dieses Wortes: shibui ist von einer speziellen Art von Coolness geprägt. Als ich von diesem Wort zum ersten Mal gelesen habe - das war noch relativ kurz vor meiner Japanreise - wurde es mit oldschool cool übersetzt. Ich kann mir vorstellen, dass die Deutschen dafür gerne retro oder vintage verwenden mögen. Wobei ich denke, dass damit der feinen Nuance mit dem Gefühl von Cool nicht Rechnung getragen wird. Also ist vielleicht ein so spezielles Wort sogar extrem nötig, denn während heutzutage die Bedeutung von Coolness viel oberflächlicher geworden ist im Vergleich zu ihren Ursprüngen, und Clubnächte sowie furchtbare EDM zu einem neuen Mainstream-Begriff von cool geführt haben, so hatte ich immer noch das alte Verständnis im Kopf, das im Japanischen nun ihre eigene Bezeichnung erhalten hat: shibui ist der Gentleman vor dem Playboy, shibui ist Sean Connery als James Bond vor Daniel Craig, shibui ist die Vinyl-Platte vor dem iTunes-Download, aber auch Jack White vor Kanye West, Lana Del Rey vor Taylor Swift, Daft Punks "Random Access Memories" vor David Guetta. Quentin Tarantinos ganze Film-Ästhetik basiert auf der westlichen Vorstellung von shibui. Es ist im Endeffekt sogar, dass mein ganzes Interesse dem Surrealismus gegenüber nicht einfach nur der Kunst, der Geistesströmung Willen ist, sondern auch der Vorliebe für den Style und die Atmosphäre, die die Surrealisten umgibt; alles aus der Betrachtung der jetzigen Moderne. Was den Surrealismus eben als shibui definiert.

Worauf ich hinaus wollte, ist eine kreative Erleuchtung. Nach einem erfolgreichen Karaoke-Abend in Kamakura mit meinen etwas älteren japanischen Freunden trieb uns der Hunger in ein Izakaya in Zushi - eine Form von Bar und Imbiss in einem, die so typisch nur in Japan zu finden ist. Das Lokal gehört einem alten Schulkameraden einer meiner Begleiter, sah mehr wie ein alter Schuppen aus, das direkt an den Bahnschienen stand, wo auch regelmäßig etwas fuhr. Der Eingang war entsprechend altmodisch, aber cool japanisch. Am Fenster hingen Poster mit alten Ukiyoe-Motiven aus, die schön anzusehen waren und nach neuen Mitarbeitern warben.
So trat ich in das Izakaya, und auch das Innere hatte eine leicht gebrauchte, in dunklem Holz ausgerichtete Optik zu verzeichnen. Die beiden Jungs, die dort gearbeitet haben, hatten jeweils sehr spezifische Gesichter: Einer war bärtig und bewies auf vielen Fotos, die später folgten, einen in der Tat surrealistischen Humor mit Serj-artigen Mimiken. Der andere war zwar glatt rasiert, aber sein Gesicht war von so einer kantigen und spezifischen Form, dass ich ihm locker ein Model-Dasein zugesprochen hätte. Beide hatten längere Haare, und könnten jeweils in irgendeiner Band spielen. Ihre Arbeitskleidung war traditionell japanisch, mit Hals- und Stirntüchern, um sich den Schweiß jederzeit vom Gesicht wischen zu können. Dazu ihre zen-stoische Arbeitshaltung. Wie zwei richtige Rock'n'Roll-Samurai.

Zu diesem herrlich japanisch-altmodischen Flair kontrastierte nahezu perfekt die westliche Musik aus Blues, Rock und Jazz, die nun mal zu Hundertprozent shibui ist und damit auch vollkommen meinem Geschmack entsprach. Dazu gab es Whisky Highball, salzige Bohnen und mehrere Varianten von Fleisch am Spieß zu genießen, was zu einer ausgelassenen Stimmung mit persönlichen Gesprächen und meiner Teilhabe an japanischer Lebenserfahrung führte. Irgendwann kam dann der alte Schulkamerad von Satoko, der glorreiche Besitzer dieses Izakaya namens Shinji Kaneko, zu uns an den Tisch. Er ist kein Gastronom, der alles nur aus einer pragmatischen Notwendigkeit heraus macht, sondern er ist ein durchreister Idealist. Alles in diesem Izakaya ist seinen Ideen entsprungen und hat seinen Charakter angenommen, um einen Raum zu bieten für Gesellen des gleichen Geistes. Als ich dann erfuhr, dass sein Lieblingsfilm auch mein Lieblingsfilm ist, das sagenumwobene Love Exposure von Sion Sono, hielt mich nichts mehr davon ab, ein Foto mit ihm zu machen. Ich lobte ihn für dieses Lokal, dass es cool sei und - man kann's ja ahnen -  ...shibui. Und wenn schon gerade überall STAFF WANTED steht... wenn ich nur ein wenig mehr Japanisch sprechen könnte, würde ich ernsthaft überlegen dort zu arbeiten, was für eine Lebenserfahrung wäre das nur! Und für diese Arbeitsjacke erst recht!

Der Name des Izakayas lautet übrigens MARUKYU 丸久. Die Visitenkarten haben genauso viel Style. Wer jetzt Neugier bekommen hat, sollte mal einen Blick auf deren Facebook-Seite werfen.


Von links nach rechts: Satoko & Hiro, ich, Mika
Der Besitzer in seinem Izakaya
Die Band - ich scheine nicht der einzige Surrealist zu sein.

Kommentare

Beliebte Posts