Bar SLOWDANCE
Wer TOKYO besuchen sollte, wird sich schnell so fühlen, als wäre er in einem Paralleluniversum gelandet. Der Kontrast von Tag zu Nacht, von Chaos zu automatisierter Ordnung, der Futurismus, die schiere Größe, Höhe und Lichtkraft der Stadt - alles ist für einen Europäer mehr als überwältigend, sorgt durch diese existenzielle und technische Grelligkeit schnell für müde Augen, sodass ich empfehle, nicht ohne eine Sonnenbrille, egal zu welcher Uhrzeit (!), loszuziehen. Tokyo ist so facettenreich und ähnelt damit einer riesigen Luftblase, gefüllt mit unzähligen weiteren Parallelwelten, die meist nur eine Tür voneinander getrennt liegen. Ein riesiger Raum der Realitätsbrüche, in der es von kafkaesk klaustrophobischen Wänden bishin zu beinahe schon filmisch geschnittenen Architekturen nur so wimmelt, und man die Vorstellung bekommt, das zehn Lebensspannen niemals reichen, um alle versteckten, unscheinbaren und geheimnisvollen Winkel ausfindig zu machen.
So kam es, dass ich im Nachtleben des Stadtteils UENO von Mika hinter eines dieser unscheinbaren Türen in solch eine Parallelwelt geführt wurde, wie sie ein Haruki Murakami als Verschiebung der Realität in seinen Erzählungen zur Geltung gebracht hätte. Es war die Lieblingsbar von Mika.
Transformierend, weil vom grellen stroboskopischen Blau des Ueno-Nachtviertels diese Tür in eine tiefrote, enge, wie unter Zeitlupe gesetzte Funk/Jazz-Bar führt, die passend dazu mit dem Namen SLOWDANCE getauft ist. An der einen Ecke trohnend wie ein stiller und nicht weiter beachteter König hängt ein Fernseher, der altes Videomaterial von Konzerten sowie Dokumentationen über die Musiker zeigt, deren fotografische Portraits die Wand zieren, und durch die dynamischen Farbenspiele des Videos als einzige weitere Lichtquelle diesen Red Room akzentuiert. Die Königin zum Fernseher ist die Discokugel auf der anderen Seite des Raumes, welche die Japaner, die dort durch die Tür hinein treten, mit einem Segen über ihren Köpfen empfängt.
Die Leute kommen zum Abschalten hierher, zum Rasten, zum Entschleunigen der Sinne durch pure Sinnlichkeit - Alkohol und Musik.
Als wir eintrafen, waren da eine Gruppe von drei Freunden bereits am Feiern. Später, als wir wieder gehen wollten, waren die drei Freunde ausgetauscht gegen ein Mann und eine Frau, die gemütlich und wie zufriedene Katzen zu den Klängen des Saxophons und der Soul-Stimmen ihre Köpfe hin und her wippten. Dazwischen kam ein Freund Mikas, sozusagen ein Bar-Kollege, in dieses Lokal nach einem langen Tag im Architektur-Büro. Er ist charismatisch, mit einem eigenen spezifisch gutem Aussehen, und auch ein liebevoller Familienvater, der relativ schnell seine Kinder auf dem iPhone vorstellt.
Ich probiere den besten japanischen Whiskey aus, der nicht auf der Karte steht: YAMAZAKI WHISKEY. Ein verdammt gutes Getränk. Die Stimmung schlägt sich um, und wir kommen auf Themen zu sprechen, die sich innerhalb der letzten sieben Jahre in unseren Familien zugetragen haben, und auch darüber hinaus von früher, unseren jeweiligen Erfahrungen. Diese Art von Intimität sollte sich noch öfters wiederholen zwischen uns. Zwischenzeitlich blieben wir manchmal einfach stumm, und zusammen schweigen können deutet auf ein gutes Omen hin. Tatsächlich ging es nicht anders, als sich immer wieder diese Pausen zu nehmen, um einfach zu begreifen, wo ich mich gerade überhaupt befinde - diese rote Bar hinter einer unscheinbaren Tür in diesem Viertel in dieser unendlichen Stadt, die Sprache, deren Klang ihren eigenen Raum formt, die Musik; Baseball und Tokyoter Jazz-Bars, der Grundstein für Murakamis literarische Welt, hautnah erlebt. Ich musste alles aufsaugen. Mit allen Sinnen, die durch den Whiskey dazu erweitert waren.
Die Nacht, die einzige meiner Reise innerhalb der Stadtgrenzen Tokyos, verbrachte ich im Hotel direkt neben dem Tokyo Dome. Das weite Fenster eröffnete mir das nächtliche Panorama der unendlichen Stadt. Mika denkt vor, sie weiß, dass ich dort Bilder machen wollen würde.
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