No. 12

Ich drifte. Nicht mit dem Auto, sondern ich streune umher, biete mich dem Zufall zum Opfer, folge meinen spontansten Impulsen in der nächtlichen Szenerie der Lübecker Innenstadt. Sie ist irgendwie immer noch schön, die gute alte Hansestadt. Voller geheimer Winkel und Ecken, die sich wie Sammelbecken unterschiedlicher Imaginationen und Überraschungen geben. Innerhalb dieser Sulci, zwischen den Gyri erstrecken sich kleine Räume, die ich verdutzt als mir unbekannte Variablen in einem lässigen Spiel aus Erinnerungen und Soft-Porn entdecke. Aus dem Fenster eines Hotels kommt ein junger Kerl dazu, mir seine Whoo!-Geräusche entgegenzuschleudern, der gute Junge bekleidet mit seinem schwarzen lächerlichen Schlüpper - "Motherfuckaaa...!", echot er zu mir herüber.

No. 12. Rotes Neonleuchten, eines der wenigen Bars, die alternativ aufkommen und in welchem zwei Tage nach dem elenden Vatertag noch was los ist, unverbrauchte Energien zu finden sind. Dort sitze ich in Ruhe, trinke, beobachte, denke und mache Pläne. Irgendwann, so prophezeit es sich immer, spricht mich ein Südländer an. Anfangs habe ich wenig Lust auf ein mühevolles Gespräch mit seinem sehr gebrochenen Englisch, doch fasse ich bald mehr Interesse an ihm, als so einige Details klar werden. Ich möchte hiermit Mohammed vorstellen, kurdischer Iraki, der sechs Monate lang in die Schlacht gegen ISIS gezogen ist, die seinen Heimatort Massolu (nördlich des Landes) leider nun zur Hälfte kontrollieren und seinen Besitz geraubt haben - zwei Häuser, ein Wagen, sein Kapital. Als Anwalt mit Ehefrau und zwei jungen Kindern zieht er für diese in den Krieg, es ist kein Beruf, für den er bezahlt wird, sondern eine idealistische Leistung. Letztlich war es dort nicht mehr sicher für ihn, daher ist er nach Europa gekommen, arbeitet hier, und wird im Mai, statt eine Verlängerung seines Visums zu beantragen, das er ohne Probleme bekommen würde, wieder zurück in den Irak gehen, und dort erneut auf dem Schlachtfeld ISIS die Stirn bieten. Für ihn ist es schon schwierig, als Muslime zu gelten, obwohl er keiner ist. Eher noch durch den Terror von ISIS ist ihm die Brutalität der Religionen vor Augen gehalten worden. Sein Vater hat ihm gesagt: Christen sind deine Brüder, Moslems sind deine Brüder, Juden sind deine Brüder. Doch dann kommt ISIS als ein radikaler Vertreter dieser Religionen und sie kennen nur ein Gesetz und einen Gott, den des Todes, wer sich ihnen widersetzt. Wie bereits erwähnt, seine Frau und Kinder sind in Sicherheit, er zeigt mir auf dem Smartphone via Google Maps genau wo seine Heimatstadt liegt, und wo nun seine Familie in einer kurdisch beschützten Stadt Zuflucht finden, Zaxo, nahe der türkischen Grenze.
Am Tresen neben mir saß ein sehr markant aussehender älterer Argentinier mit einer schwarzen Haarpracht, wie sie Rambo voller Stolz tragen konnte, durchsetzt durch verhältnismäßig wenig Silber. Mohammed setzt seine Mütze ab und zeigt dem Argentinier seine Glatze, die er sich rasiert hat, weil ihm die Haare bereits Goodbye sagen wollten. Als würde es irgendeine Rolle spielen, fragt Mohammed ihn, welches Shampoo er benutze. Anwälte -  keine Ahnung von Medizin, der Arme ist Opfer seiner Gene, der Argentinier ein kosmetisches Wunder. Aber Mohammed ist fasziniert wie ein Kind.

Neben Mohammed auf der anderen Seite sitzt eine Frau mit rotblondem Lockenkopf und nagetierartigem Gesicht, die bereits müde und angetrunken an ihrem Bier nippt. Sie gehört anscheinend zu niemandem, weshalb sie schüchtern versucht, den Kontakt zu mir zu knüpfen.

"Hast du mal jemanden vor deinen Augen sterben sehen?"

Am See in diesen sommerlichen Tagen ist ein Refugee, der das weite Meer überquert hat, ertrunken. Ein dummer, sinnloser Tod, der leicht hätte verhindert werden können. Dies macht sie zu schaffen, in Hamburg wollte sie sich regelrecht abschießen, doch der Plan ging auch daneben, als ihre Freundin mit Migräne den Festival-Feier-Abend für beendet erklären musste. So kam sie mit dem letzten Zug nach Lübeck zurück, erst seit drei Monaten hier, ohne Ansprechpartner, ohne jemanden, der auf sie zu Hause wartet, voll schmerzlicher Heimweh zu ihrer Nordsee(le). Alles an ihr schrie aus Einsamkeit, aber ich konnte ihr diesen Komfort nicht bieten, ich hatte zu tun, mit Denken, mit Planen, mit Beobachten - und Trinken.

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