Bekenntnisse II


Japan 2015. Irgendwann in der Nacht, irgendwo in der klaustrophobischen Enge einer kleinen Stadt der Präfektur Chiba.

Ich folge Naoko in ein Lokal, wo zwei ihrer Freunde auf uns warten. Es ist mitten in der Woche, spätabends, und wir laufen im kleinen Labyrinth wie Pacman auf der Suche nach Körnern. In einem Privatzimmer, abgeschnitten von den öffentlichen Tischen des Restaurants, treffe ich Tomoko wieder, eine mir bereits vorgestellte alte Schulfreundin Naokos, Ehefrau, Businesslady - und als dritte Identität ein Call-Girl. Die nebenbeigesagt zu ihrem Mann auch oft wechselnde Boyfriends in meinem (!) Alter aufzählen kann. Der zehnjährige Altersunterschied wirkt verschwindend gering bei ihrem jugendlichen Aussehen und Verhalten...
Neben Tomoko sitzt ein imposant fetter Mann, und es ist bitter, gestehen zu müssen, dass ich mich heute leider nicht mehr an seinen Namen erinnern kann. Er sprach keinen Brocken Englisch, aber war ein erfolgreicher Firmenbesitzer mit einem extravaganten Stil, ein Komiker wirklich, der mich im ersten Moment an eine etwas schräge Yakuza-Figur erinnerte. Seine Brille, seine Uhr, seine Kleidung auf diesem Sumo-Körper - es war alles so poppig.
Mir kam der Gedanke: In was für eine japanische Situation bin ich jetzt schon wieder reingeraten? Wir zu Viert, eine seltsame Party-Gesellschaft, mit mir als den deutschen Studenten und Privatlehrer für den Sohn Naokos. Sie wiederum ist die sehr anachronistisch-konservative Ehefrau des Chirurgen, der mir meinen Aufenthalt in Japan ermöglicht hat.
Die drei versammelten Ü30-Japaner waren allesamt Schulfreunde, welche noch weit über die Tage an der Lehrbank hinaus in Kontakt geblieben sind. Schon damals waren sie eine wilde Gruppe, Naoko hat mir in ihrem fast nicht existenten Englisch zu erklären versucht, wie abgefuckt sie als 18-Jährige in Roppongi, Tokyo feiern war. Zu viel Alkohol, zu viel Party, ein japanisches Gör, die besoffen und mit zerrissenen Hosen am Straßenrand auf ihren Knien gestützt versucht nicht umzukippen, während sie auf den Zug nach Hause wartet.

Wenig später an dem Abend sollte ich erst erfahren, was es heißt, zu viel zu trinken. Was mir in meinen bis dato 25 Lebensjahren noch nicht untergekommen ist.


KARAOKE, meine Lieblingsbeschäftigung in Japan, an einem Mittwoch um 2 Uhr nachts. Dazu die finanzielle Standhaftigkeit dreier Japaner, die mir eine tolle Zeit bieten wollen. Auf einer riesigen Bühne, mit einer Auswahl all meiner Lieblingsbands und -songs, konnte ich dem Rock'n'Roll frönen wie nie zuvor. Ich lieh den Songs von System Of  A Down meine Stimme, personifizierte Jim Morrison und beschwor die Dunkelheit durch The Velvet Undergrounds  "Venus in Furs". Ich lebte mich aus, strapazierte meine Stimme, wurde durstig und trank ein Glas Whiskey-Soda nach dem anderen, das mir meine Gastgeber wie am Band ausgaben. Sie genossen die Show, ich bekam eine goldene Buddha-Maske, die ich aufsetzte, um zu System Of A Downs "Psycho" abzugehen, wie ich es von Serj Tankian abgeschaut habe.

Je mehr ich trank, umso mehr brachen meine Muskeln zusammen. Eine Stimme wird durch Luftholen, Ausatmen und exakten Muskelbewegungen zu einem Samuraischwert geformt. Doch alles, was ich mit der Zeit von mir gab, war alles anderes als scharf, es glich vielmehr einer expressionistischen Studie eines Kindes, das von einer Bulldogge vergewaltigt wird.

Ich war zum ersten Mal in meinem Leben hart betrunken.

Im April 2014 habe ich einen Text verfasst, der mit aller Liebe zum Detail eigentlich nur sagen wollte: Fuck you, people. Provokativ habe ich es BEKENNTNISSE genannt, ein klein wenig melodramatisch, gebe ich gern zu. Darin beschreibe ich, warum ich kein Alkohol in meinem Leben vorher getrunken habe, was die allgemeinen Reaktionen und wie meine Reflektionen dazu waren. Exakt ein Jahr später habe ich zum ersten Mal und zum Schock der Dabeistehenden bewusst Alkohol probiert.
Nachdem ich wirklich dunkle, angstzerfressene, und dadurch krass an meinem Nervenkostüm gekrallte Wochen des Physikums verbracht hatte, war der universitäre Terror ausgestanden und heiter und happy konnte ich somit einen wichtigen Schritt nach vorne treten. Nicht einmal mein Abitur war dermaßen nervenaufreibend gewesen. Es ging allein ums Durchhalten, und weil ich es eben durchgehalten habe, war es auch an der Zeit, wie ein Erwachsener diesen Erfolg mit Stil und Geschmack und vor allem für meine Verhältnisse etwas völlig Radikalem und Neuem preiszukrönen. Ein Glas Scotch, on the rocks.
Für die meisten, die den ersten Text nicht kennen oder mich bis dahin noch nicht kannten, mag das nicht ganz begreiflich sein - aber es war ein Riesending für mich. Ich meine wirklich HUGE.

Und nun änderten sich die Fragen von "Warum trinkst du kein Alkohol?" auf "Warum hast du zu trinken begonnen?"

"Und warum gleich mit Whisky angefangen?"

Es war das Brennen. Sage ich, während ich mit einem verschmitzen Lächeln in die Augen meiner Gesprächspartner blicke. Dramatische Pause. Das klingt nach Himmel und Hölle gleichzeitig. Das, und natürlich auch der Stil, die Ästhetik, die damit einher geht. Nichts liegt mir ferner, als dies zu verschleiern. Ich wollte mich wie ein Gentleman fühlen, und tat es so, wie mir die Welt diesen vorgespielt hat. Es war bereits ein Genuss, wie sich die Schleimhaut zusammenzieht und eine rauchige Schicht von Empfindung auf meine Zunge ausweitet. Der Geschmack war so eigen, jenseits von süß und sauer, salzig und bitter, ja sogar über umami hinaus schien er zu bestehen. Ich schwinge das Glas, worin sich dieser goldbraune Glanz manifestiert, spüre ihr Gewicht, und benetzte jedes mal mit einer Eleganz meine Kehle, die mich an Art Deco denken lässt. Zu diesem Zeitpunkt war mein festes Vorhaben, wenn ich schon Alkohol trinke, dann im Namen des Genuss nur das Beste: Whisky.
In Japan macht das Eindruck. Bier will jeder mit mir trinken, weil ich aus Deutschland komme und ich damit assoziiert werde. Aber sobald ich mich erklärte, dass ich monogam mit Whisky lebe, da war es ein tiefer Respekt, der mir entgegen gebracht wurde. Es galt wohl als besonders cool. So wie Quentin Tarantino oder Nirvana. Mir wurde gern mit Stolz japanischer Whisky ausgegeben, und ich habe es immer wieder genossen. Solange, bis ich mich eben beim besagten Karaoke-Trinken maßlos ausprobiert habe, und am nächsten Morgen dachte, ich würde mir den feschen Dünndarm aus dem Leibe kotzen. Ich dachte an das Selfie eines Freundes, der in genau solch einem Moment das schrecklichste und zugleich lustigste Bild gemacht hat, das ich je sehen durfte. Ein Selfie meiner Lage wäre also eine gute Idee, dachte ich mir noch recht heldenhaft, aber bevor mein Körper meinen kreativen Entschluss umsetzen konnte, überschlug sich Erbrochenes mit allen Verwünschungen und verfickten Hassgefühlen, die ich meinem Körper und mir selbst entgegenzusetzen hatte, und nein, kein Selfie, ich sterbe hier wirklich. So derartig geschwächt, habe ich die letzte Woche in Japan keinen Schluck mehr getrunken. Erinnern konnte ich mich  dennoch an jedes Detail dieses wahntastischen Abends.

Wie sieht also das Leben aus in der Dialektik vom Anti-Alkoholiker zum methodischen Hedonisten? 

Tja. Es ist, wie es ist: Wahnsinn mit Methode. Irgendwann mischte sich zum Whisky doch anderes unreines Zeug dazu, Rotwein wurde kultiviert, Craft Beer gehipstered. Ich bin dem Rausch als antike Ruine im Dschungel begegnet, und wollte die Expedition als solche auch fortführen. Tiefer, immer tiefer hinein, bis ich an die Grenzen komme. Durchgang verboten. Diese Grenze ist nach zwei klitzekleinen Übertritten sehr gut von meiner eigenen inneren Polizei abgeschirmt. Kater kenne ich nicht, wie die anderen es beschreiben, Kopfschmerzen sind mir fremd, aber die dekadente Erschöpfung ist das, was ich auf ihre melancholische Qualität hin genieße. Es fühlt sich wie eine Reinwaschung an. Aber mit Feuer und Dampf! 
In Anatomie frisch geschult wusste ich beim ersten Abendtrunk sehr wohl, was beim Alkoholkonsum in meinem Gehirn abgeht. Aber als Bewusstseinsphänomen war es eine völlig andere Geschichte, eine Erfahrung, die erst noch eine Zuordnung brauchte. Dabei ist es wie beim Einschlafen, der Körper und das Bewusstsein entspannen sich unbemerkt, doch plötzlich schlägt es zu, und ich frage mich, wie ich diesen Shift verpassen konnte.Was früher drei Stunden brauchte, geschieht nun nach einem Glas. Kampai!

Bereue ich es, mein Markenzeichen aufgegeben zu haben? Naaah. Von Anfang an war mir bewusst das "Sag niemals nie!" genauso ernst zu nehmen wie das "Ich trinke keinen Alkohol." Eher habe ich dadurch nur wieder eine besondere Stellung etabliert. Nämlich so spät mit den psychoaktiven Erkundungen begonnen zu haben, führte mich in die exzellente Situation,  in eine Sinneswelt als unbeschriebenes Blatt abtauchen zu können. Beobachtungen mit frischer Tinte zu scribbeln. Ich habe vorerst widerstanden. Doch das Imperium schlägt zurück. Sex, Tanzen, Karaoke, alles hat eine aufregende Erfahrungsdimension im Rausch dazu gewonnen.
Klar, mir wird vorgeworfen irgendwelche fehlenden Teenager-Jahre nachzuholen, aber Haters gonna hate, das war abzusehen! Ich hatte eine großartige Zeit in meiner Schulzeit und würde nichts anders machen, es ist sogar eher die Zeit nach der Schule, die gewisse Schönheitskorrekturen nötig hätte. Ich bin ein lustiger Betrunkener. Keiner, der einen runterzieht. Trinken ist Hedonismus, ja, und ich liebe den Spaß, den ich dabei habe. Nur Erbrechen ist kein Ziel. Der Filmriss ist kein Ziel. Das finde ich bis heute krank, weil das nicht lustig ist. Alkohol ist wie ein Fenster in einer Wand, durch die ich Dinge bewusster wahrnehmen kann, aber wird dieses Fenster zu groß, kippe ich hindurch und falle. Und dieser Fall aus dem Fenster passiert nicht nur im metaphorischen Sinne, sondern hatte buchstäblich über den Fall aus dem Fenster beinahe das echte Leben von Freunden gekostet.
Nur eine Sache  musste ich mit Enttäuschung feststellen, wenn es darum geht, heißen Sommertagen mit dem perfekten Drink entgegenzuwirken:
Ich hab versucht den Whisky kalt zu machen - es hat nicht funktioniert.

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