Bitch, ich schreibe!
Wir schrieben das Jahr 2017 A.D. und ich war nicht allzu fern, aber dafür oft auf Reisen. Dabei hätte ich von vielen Abenteuern berichten können: polnische Hochzeit, Erkundung eines privaten Weinkellers in Sopron, das jüdische Viertel in Krakau, eine Vielzahl an Suffgelagen. Mein Kopf fand jedoch keine Motivation für Prosa. Zum einen verbrannte ich meine prosaischen Ideen für die Studierendenzeitung, zum anderen war mein Mindset ein völlig anderes. Ich hatte eine vergrabene Quelle wieder angezapft und überraschend neue Welten und Techniken gefunden - beim Schreiben von Gedichten.
In meinem jungen Leben kann ich genau drei Wellen des Gedichteschreibens ausmachen. Meine erste mit 15 Jahren, die zweite mit der Volljährigkeit bis zum Anfang der existentiellen Zwanzigern und nun seit Ende 2016 dauert die dritte goldene Zeit an. Musiker waren und sind immer noch mein wichtigster Einfluss beim Schreiben von Gedichten, mehr noch sogar als die Werke jener Dichter, die allein für ihre Poesie bekannt sind.
ERSTE WELLE
Das Romantische, Expressionistische und Makabere von Till Lindemann, den die Menschen vor allem als Frontmann Rammsteins kennen und der mit zwei eigenen Gedichtbänden aufwarten kann, inspirierte mich zu einer Vielzahl erster eigener Gedichte. Meine damalige Deutschlehrerin erkannte meine Leidenschaft und förderte sie.
ZWEITE WELLE
Serj Tankians humorvolle Wortspielereien und soziopolitisch angehauchten Themen, die besonders in den Songtexten seiner Band System Of A Down sowie in zwei Gedichtbänden Niederschlag finden, wurden vom schamanisch-nitzscheanischen Klang eines Jim Morrison ergänzt. Aus den Schriften der Surrealisten lernte ich die Methodik des automatischen Schreibens, antiliterarische Prosadichtung und Brüche jeglicher Realitäten kennen.
DRITTE WELLE
Nach gut fünf Jahren Abstinenz kam Leonard Cohen in mein Leben und seine Reife und Tiefe, sein erotischer Ton spiegeln sich nun in meinen Worten wider. Vor allem seine Geduld beim Schreiben hat mir Mut gegeben, dass nicht alles Text als fertige Niederschrift geboren sein muss. Selbst für seinen größten Song "Hallelujah" brauchte Cohen fünf Jahre, um die Lyrics als vollendet anzusehen. Bei ihm allein blieb es aber nicht. Etwas ohne ein direktes Vorbild hat sich in mir manifestiert - der Wunsch, Gedichte zu schreiben, die aus dem Jahre 2047 stammen könnten und nicht von dieser Welt zu sein scheinen. Ein aufstrebender Autor fand schließlich einen Namen für dieses Gefühl und taufte es Ultraromantik.
Mit dem Verfassen eines Gedichts, vor allem eines längeren wie MAGNETISCHE KREISE, habe ich eine neue Methode für mich entwickelt. Mit der Schreibmaschine - von Hipstern üblicherweise als Staubfänger abgestellt - lässt sich vortrefflich arbeiten. Als Utensil hat sie ihren eigenen Sexappeal, denn mit ihr fühlt es sich an wie das Klimpern auf Klaviertasten (wieder: die Musik als Motor), der Flow ist da und ad hoc lässt sich weißes Papier mit bedruckten Zeilen schaffen, die ich sogleich mit Marker & Stift bearbeiten kann. Das Sinnliche der Mechanik wird zum Religiösen des Rituellen. Immer wieder tippe ich das Gedicht von Neuem ab, markiere das, was bleiben soll, streiche das, was nicht bestehen kann. Impulse haben so immer wieder die Chance, neugeboren zu werden. Auch wenn viel Papier dabei draufgeht, dieser rituelle Vorgang hält mir den Ernst des Schreibens klar vor Augen. Denn mit jedem neuen Blatt muss ich mich wieder besinnen, ob das, was ich bis dahin geschrieben habe, auch wirklich überzeugend und melodisch schmiegsam formuliert ist.
Mit Geduld kommen die Sätze, auch wenn ich mich manchmal dahin schleppen muss und keine Inspiration beim Schreiben finde. Dann rückt der härteste Part näher, der martialisch durchgeführt werden muss: Entscheidungen treffen, die mir schwer fallen. Stunden quäle ich mich damit herum, was besser klingt. Einzeiler, die mir ans Herz gewachsen sind, finden nicht immer ihren Platz. Die Optionen sind dann jene Killerzeilen im Gesamtkonstrukt zu verlegen, umzuschreiben oder im schlimmsten Falle traurigen Abschied von ihnen zu nehmen. Dies tut ab und zu weh, wie Entscheidungen manchmal eben wehtun. Es wird allerdings spannend, wenn sich aufgrund einer solchen Paradigma-Änderung plötzlich die Wege zu neuen Reimen, Zeilen und ganzen Symphonien eröffnen. Auf einmal rastet alles ein, magisch ergibt sich eine fertige Strophe. Dann trommele ich auf meinen Schreibtisch und feiere mich selbst mit einem Schluck Alkohol - denn dies ist der sexy Twist am Schreiben, diese reinen orgasmischen Freuden.
Was heißt es also für mich, zu schreiben? Oft werde ich mit der Frage konfrontiert, wieso ich dann nicht Literaturwissenschaften oder dergleichen studiert habe. Ich gebe gern zu, mit fortschreitendem Alter kommt mir die Erkenntnis, dass Zeit und Fokus auf EINE Sache zu richten, mehr Erfolg bringt, als die Aufmerksamkeit zu splitten. Allerdings würde ich von Anfang an in diesen literarischen Sphären leben, was mich wieder nur eingeschränkt hätte. Nichts anderes ist auch der Mensch, ein spiegelndes Paradox in sich selbst und für sein Selbst.
Aber für das Schreiben brauche ich kein Studium. Ich kann es mir nur dadurch aneignen, dass ich drei Taten mit ganzem Herzen verfolge:
LEBEN
BEOBACHTEN
SCHREIBEN
Die Stimme reift zu Worten durch ein aufmerksames Durch-die-Welt-Streifen. Eine epische Quest, in der es gilt, Krisen zu bewältigen, Kämpfe auszutragen und sich sowohl der Sinnlichkeit als auch dem Metaphysischen hinzugeben. Außer natürlich einer will Literaturwissenschaftler werden - was nicht meins ist, ich bin da eher Künstler.
Dafür ist meine Leidenschaft da, der intrinsische Druck eine Qual, die durchs Schreiben Ablass findet. Obwohl mein bourgoises Studium mir dazu kaum Luft verschafft. Es ist jedoch falsch, zu sagen, dafür hätte ich keine Zeit. Die Wahrheit ist: ICH NEHME MIR DIE ZEIT. Wenn nötig, mit Waffengewalt. Ich schreibe, weil ich ansonsten leide. Leidenschaft ist hier ganz und gar wörtlich zu nehmen. Zudem kann die Spannung zwischen meinem handwerklich-akademischen Beruf und meiner Schreibkunst auch von Vorteil sein, wenn ich zwischen diesen völlig verschiedenen Welten springe. Es stellt sich eine Balance ein. Ich brauche das. Wenn andere ihr Leben komplett der Zahnmedizin widmen können, gut für sie, und manchmal bin ich von Neid gepeinigt, weil jemand zwanzig Seiten am Tag voll literarischer Wunder schafft. Leider bin ich das nicht, ich brauche die Strukturen meiner Arbeit. Aber genauso brauche ich es auch, zu schreiben, genauso schrecklich, wie es in diesem Charles Bukowski-Gedicht SO YOU WANT TO BE A WRITER? geschrieben steht. Dabei habe ich auch die schwarze Seite, die weniger romantische, eher profane Arbeit des Literaturschaffens kennen gelernt. Fast paranormal und doch methodisch reif gehe ich an die Sache heran, was mir eine Erkenntnis weitab von dem "Ich schreibe gern" eingebracht hat. Ich kenne das weiße Papier vor mir, das beizeiten einfach weiß bleibt und sich mir nicht ergeben will. Doch ich kämpfe weiter.
Aus genau diesem Grund nenne ich mich einen Schriftsteller.
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