ANATOMIE//: Präparierkurs

Zum ersten Mal... habe ich an einer menschlichen Leiche geschnitten.

Erst jetzt, im Angesicht des menschlichen Wunders, wird einem Student der Human-/ Zahnmedizin bewusst, dass von ihm Großes erwartet wird. Das Privileg, den menschlichen Körper in all seinen Facetten und Tiefen zu erkunden, wird nur ganz wenigen Menschen auf dieser Welt zuteil. Darin liegt der Respekt gegenüber unseren späteren Professionen, in der uns das Wissen über die Toten den Erhalt der Lebenden ermöglichen soll.

Es fühlt sich so lapidar an, fast schon wie das Schälen von Orangen oder Schneiden von einer Mahlzeit. Die Assoziation mit Essbarem flottiert unangenehm und schamerfüllend mit meinen Gedanken, während ich die Epidermis von der Subkutis, die Subkutis von der Faszie ablöse. Schon bald stelle ich meine eigene geistige Normalität in Frage, wird mir da doch bewusst, dass ich überstrahle in einem Gefühl der Hochachtung für diesen Menschen, der sich zu Lebzeiten dafür entschied, seinen Körper für die Universität, für die Ausbildung zu spenden. Ich bin dankbar für dieses Geschenk, mein Wissen anzureichern mit einer Methode und Erfahrung, die mich von vielen anderen Menschen unterscheidet. Nun liegt da tatsächlich diese einstige Person ausgebreitet auf dem Präpariertisch wie eine Landkarte. Eine Landkarte, die ich zu lesen gewillt bin, mich in ihr zu orientieren, sie zu verstehen, sie auf meinen eigenen lebendigen Körper zu projizieren.

"Das Leben ist ein Symbol, der Körper auch..."
- David Lynch
Schicht für Schicht dringen wir als Gruppe tiefer in diesen Körper, erkunden dabei die Topographie einer Welt, die wir so niemals sehen können - den eigenen menschlichen Leib. Es ist eine Reise in das körperliche Ich, erdige Materie, die sich zu einer Form organisiert hat, in der Zeit zu Fleisch, und damit Dasein werden konnte. Die Situation ist surreal, Leben und Tod zugleich wahrzunehmen, vereint wie in einem alten Traum. Wenn ich meinen Blick im stählernen Schimmer des Präpariersaals umherschweife, sehe ich bekittelte Gruppen von Studenten: wie sie sich über den Tischen vorbeugen, um am Körperspender zu arbeiten, eine Anordnung, die oxidgrünen Inseln im metallenen Gemisch gleicht und uns das Gewimmel des mikrokosmischen Gewebes vorspielt. Seefahrer, Archäologen, Psychologen, Astronauten, Hacker: sie alle teilen dasselbe Gefühl von der Neugier und den Entdeckungen, die man mit jedem neuen Schritt macht. Sie umfeuert dieser Pioniergeist von Expeditionsreisen, zusammen mit den Präparateuren, zu die unsere Kaste der Human-/ Zahnmediziner als einzige miteingeladen sind. Vieles, das es nun tatsächlich zu entdecken gibt, und abenteuerlich vieles zu lernen, so viel, wie in keinem anderen Kurs zuvor. Doch dies geht Hand in Hand mit einer der höchsten - einer epischen - Lernmotivation einher. Auf einmal kommt mir dieses Latein der Anatomie so überaus poetisch vor, weil der Präparierkurs eines der philosophischsten Kurse überhaupt ist. Wo sonst sind wir der Sterblichkeit des Menschen, seiner Leiblichkeit und auch seinem Platz im Raum näher als dort? Die Philosophen werden uns dahingehend beneiden.

Vielleicht wird mir erst jetzt die Bedeutung einer Formel klar, die ein französischer Dichter einst verkündete:
Schön wie die zufällige Begegnung einer Schreibmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch.

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