Epiphanie & Provokation


Eine AC/DC-Coverband ist nicht umbedingt das, was ich meine Musik nenne, aber die Location in Mitte von Hannover: die zerbombte Aegidienkirche - besser könnte ein Ort für Rock'n'Roll-Performances nicht sein. Korrektur meinerseits: AC/DC ist zwar nicht meine Band, die Musik an sich aber ja schon.
Als würde ich irgendwas Großes planen und mir die Spielfiguren für diese Vision aussuchen, schaue ich mir die Live-Show an. Die kleine Bühne, die fett BANDAKADEMIE HANNOVER schreibt, ist für ihre Maße mit fünf Musikern weit mehr als überfüllt. Wir haben den Sänger, der aussieht wie eine kurzhaarige Version des Cannibal Corpse- ööhm...-Frontmanns; dann den austauschbaren Gitarren-Techniker-Metalhead ohne Bühnenpräsenz, der aber ja ganz viel spielerische Fähigkeiten besitzt, was so das Wichtigste ist (-- not); dann den nicht sichtbaren Schlagzeuger (war der alt oder jung?). 
Mir gefiel stattdessen der ältere Kerl am Bass. Mit seiner Basecap, einer wahren Herrennase und einem langen dünnen Hals, wo der Adamsapfel jemanden zu erstechen zweckentfremdet wirkt, hat er im schummrigen Licht etwas von einem Velociraptor aus dem ersten Jurassic Parc-Film. Ihr wisst hoffentlich noch, der, der wirklich düster und geil war.
Der kurzhaarige Rhythmus-Gitarrist war ebenfalls spektakulär - ein langer, aber sehr spargeliger Junge, dessen Statur etwas von einer Gottesanbeterin hatte. Er könnte ganz abgefahrene Bewegungen auf der Bühne machen, zumindest zur richtigen Musik - doch nicht zu AC/DC. Seine Klischee-Metal-Gesten wie das schwungvolle Werfen der Hand entlang der Saiten und die berühmt-berüchtigte Teufelshörner-Geste (Made by Dio) waren eine Verschwendung seines Potenzials.
Die Musik ist egal - solange die Energie auftrifft und explodiert, dabei selbst die mitreißt, die es nicht darauf abgesehen haben. Wo findet sich dieser Vibe? Sichtlich nicht in eines der unzähligen Coverbands, die viel Herz und Leidenschaft beweisen, aber zu eindeutig Kopie sind, um eine eigene Spirit etablieren zu können. Wo findet sich Rock'n'Roll?

In letzter Zeit geht mir diese Frage nicht aus dem Kopf. Die Serie VINYL von HBO - die trotz ihrer fabelhaften Qualität nach nur einer Staffel abgesetzt wurde, weil es anscheinend zu viele Puristen bei den alten Musikern und zu wenig junge Musikbegeisterte für das Jahr 1973 gibt - hat diese Frage gut umgesetzt und eine dionysische Bombe in noch mehr pornösen Bildern umwerfend explodieren lassen. Da wurde mir wieder bewusst, was PUNK eigentlich bedeutet. Dass es im Grunde kaum was mit diesem schäbigen Abklatsch von Penner-Attitüde in Deutschland zu tun hat, noch mit Avril Lavigne und den Jappo-Rock-Girlies, und Die Ärzte schon gar nicht. Genau deswegen grenzt man die Anfänge wohl auch als Proto-Punk von dem ab, was danach kam. Im Grunde ist Garage-Rock der neue Punk, oder zumindest dem näher als alles andere. Darin steckt die Energie, aber wo finden wir eine Garage-Szene in Deutschland? Die Europäer im allgemeinen - der Brexit schließt ja jetzt schon mal die Engländer aus - haben eh keine besonders erfolgreiche eigene Rock'n'Roll-Tradition. Nicht alles ist schlecht von hier, und einiges auch zu Recht auf Weltniveau, aber tja, ich erwähnte ja bereits die Engländer, in Sachen Rock-Musik kommt keine Kultur an die UK & USA ran. Rammstein brennt mir hier die letzten zwei Sätze lang auf der Zunge: Sie allein scheinen die wahre Natur der deutschen Avantgarde verstanden und perfekt in eine eigene originäre Rock-Musik umgesetzt zu haben. Allerdings kann es diese Band auch nur einmal geben, wer weiß, was nach ihnen kommt.

Andere provokative Frage: Muss man Rock'n'Roll allein in der Musik finden? Reicht nicht eine Serie, die als großes Gesellschaftsspektakel doch genug viele mitreißt, um in einer pluralistischen post-modernen Welt einen Totalitätsanspruch fassen zu dürfen? GAME OF THRONES? Sex und Gewalt? Klingt doch wie ein mittelalterlicher Velvet Underground-Song.

Eine total beeindruckende Feststellung habe ich gemacht, als ich einmal nach einem genüsslichen Akt des Rauchens im dunklen Zimmer auf einen großen Fernseher starrte... mein Cousin, Vertreter der Generation YouTube, hat sein methodisches Vorgehen für diese Art von psychonautischen Erkundungungen. Wir 20er können viel davon lernen. Er machte ein äußerst heftiges Musikvideo an, und ihr werdet lachen (~~~)! - Aber ich spürte eine Epiphanie bei dieser Musik und den Bildern, es drückte mich förmlich tief in die Couch rein (nicht allein nur wegen der Relaxation), und plötzlich sah und hörte ich die Zukunft. Es war zwar instrumental gesehen kein Rock. Doch die epileptischen Bilder waren so massiv und spektakulär, das Momentum des Bass immer wieder genau auf die innersten Hirnareale niederschmetternd getimed, eine Bo-ob!-BOMBE. Das Video von Jay-Z und Kanye West der Live-Performance von: NI**AS IN PARIS! -
 (Aber bitte, zieht es euch auch nur in 1080 HD rein und im Vollbildmodus.)


Da habt ihr's! Und reingeschnitten hören wir hier sogar Will Ferrel das endgültige Statement aussprechen: "No one knows what it means. But it's provocative!" Mit dem Rock'n'Roll verhält es sich ebenso wie mit Europa: Es gibt keine Grenzen. Das gilt auch für Genres.
Ich meine nicht damit, dass ich jetzt Hip Hop machen will. Meine Seele finde ich nun mal in dem anderen Format wieder, und wahrer Hip Hop bleibt eh von den Afroamerikanern/innen ungeschlagen (wenn eine Frau sogar beim Sex den sicksten Flow und Rap improvisieren kann, hat sie den Kampf der Geschlechter bereits für die Frauen entschieden!).

Aber um wieder zu meiner Anfangsfrage zu kommen: Wo finde ich den Rock'n'Roll?
Zum einen habe ich mein Schreiben dazu auserkoren; aber da ist noch mehr -- in Hannover sollte es doch möglich sein, eine einigermaßen gut funktionierende und vor allem auf Persönlichkeiten basierende Gruppe zusammenzustellen, deren Musik rau und primitiv ist, aber schizophren und unbestreitbar originell klingen sollte. Das geht raus an alle da draußen. Wir brauchen Surrealisten, die sich in einer Band vereinen.

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