Ein sexueller, religiöser Mensch
Kurz überlege ich noch, ob ich wirklich Lust darauf habe. Die kleine Restflamme, die für die Motivation steht, bekommt ihr allerletztes Momentum vielleicht nur deswegen, dass ich mich in Polen in der Kirche bei den Frauen zeigen kann. Ein kurzer, aber damit immanent gewordener Gedanke. Unglaublich, das auszusprechen, aber letzten Endes ehrlich. Nein, noch einen Tick mehr Gewicht hat mein Gefühl von Tradition und kultureller Zugehörigkeit. Dieses veranlasst mich, mit meiner Mutter und Tante an Heiligabend zur Mitternachtsmesse zu fahren.
In der Kirche, die nicht umbedingt zu den schweren, kalten, alten Bauwerken gehört, aber diese Steingarnitur und Höhe von außen so einen mächtigen Ausdruck verleiht, während sie im Inneren etwas moderner ausgestattet ist, versammeln sich die Menschen - die Ältesten andächtig, die Erwachsenen mit Poker-Face, die Jüngsten müde und bereits am Einschlafen. Es beginnt das selbe Schauspiel wie jedes Jahr zu Weihnachten: Die Geburt Jesu wird herausgelesen, es werden schöne polnische Weihnachtslieder gesungen, eine Predigt handelt davon, wie wichtig es wäre, dass der Geist der Weihnacht in jeder Nacht des Jahres besteht; dann wird Jesus symbolisch in Brot und Wein gezaubert und verspeist. Bei jeder Messe gibt es die Stellen, an denen der Besucher entweder sich bekreuzigt oder in die Knie geht. Beim Bekreuzigen mache ich mit, beim Knien bin ich froh, nicht auf den Bänken zu sitzen, sondern von ganz hinten, lässig gelehnt an die kalte Steinmauer, dem ganzen Geburtstagsspektakel beizuwohnen. Aus meiner Erfahrung gehen die Leute, die in der Kirche die ganze Zeit stehen müssen, selten in die Knie - eher nur die sehr gläubigen Menschen. Doch es überrascht mich, als diesmal wirklich jeder zu Boden geht. Ich blicke verwirrt um mich herum. Meine Mutter steht noch. Ich mache es ihr nach, weil ich das weder erwartet habe, und schon gar nicht aus religiösen Gefühlen nacheifern wollte.
In dieser seltsamen gesellschaftlichen Enge, in der ich mich nun fühle, komme ich nicht umhin, den Worten der Predigt kein Gehör mehr zu leihen, stattdessen in eigenen Reflektionen zu wandern. Die große Frage, die sich mir jedes Jahr zu Weihnachten stellt, besonders wenn es normalerweise das einzige Mal im Jahr ist, dass ich eine Kirche von innen sehe:
Für mich selbst begann diese, von mir nach außen getragene Frage, als ich ungefähr 13 Jahre alt war und die Philosophie für mich entdeckte. Ich startete eine Umfrage bei meinen Lehrern, ob diese an Gott glauben. Dabei war die Reaktion unterschiedlich, von eindeutig Ja, über dem vagen Glauben an etwas Höheren, bishin zur Aussagenverweigerung, weil dies etwas Privates sei. Mit dem Beginn meiner philosophischen Bildung konnte ich nicht mehr davon sprechen, dass ich an Gott glaube. Ich gehörte lange Zeit zur zweiten Gruppe, in der eine Art von Schrödingers Gott vorherrschte: Es gab ihn und zugleich gab es ihn nicht - aber allein die Möglichkeit seiner Existenz war etwas, das den Glauben rechtfertigte. Agnostik nennt sich diese Form von Glauben innerhalb einer monotheistischen Religion.
Aus der Glaubensfrage entwickelte sich, was das Leben bezüglich des Glaubens ausmacht, die Lebensphilosophie, und im Weiteren: der Existentialismus ward geboren. Die Frage ist eben nicht mehr, ob es einen Gott gibt, sondern ob ich ein religiöser Mensch bin.
In der Kirche nun habe ich genüsslich am Weihrauch geschnüffelt und der sakralen Musik gelauscht, während ich den schwachen Worten dagegen keine Mühe des Zuhörens mehr gab: So veraltet diese Sprache ist, kreist sie im Loop wie ein dementer, verschrobener Kopf ständig nur um die Begriffe "Gott, Vater, Herr". Und das kann ich nicht mehr hören. Der Vater als Ideal ist für einen jungen Mann eine sehr schwierige Angelegenheit, zwischen ödipaler Scham, kafkaesker Schuld und doch immer dem Bedürfnis, seinem Vater nahe zu sein und ihm gleichzukommen. In meinem Falle habe ich meinen Paps verehrt, er war mein größtes Ideal, bis zu einem tragischen Jahr, in der er meine Mutter verließ, und ich Stück für Stück den wirklichen Menschen gesehen habe, der er ist. Ein Freund, der eine ähnliche emotionale Erfahrung mit seinem Vater durchgemacht hat, fand die richtigen Worte dafür: "Es ist wichtig für einen jungen Mann, dass er den Glauben ablegt, sein Vater sei ein Gott. Nur so wird er erwachsen, ein wirklicher Mann."
Warum sollte diese Lebenserfahrung nicht auch für den Gott unserer allgemeinen Vorstellung gelten? "Father, why have you forsaken me!", ruft Serj Tankian in System Of A Downs "Chop Suey!" laut aus, wie es Jesus am Kreuz getan haben soll. Wer will schon der Sohn Gottes sein? Nietzsche hatte letzten Endes sowas von recht: Gott ist tot, und zwar der BEGRIFF von Gott. Wir haben Gott totgeredet. An seiner Stelle hat nach langem Reden, Theoretisieren, Misshandeln, über Jahrtausende hindurch ein missbrauchter Kampfbegriff den Platz eingenommen, und was in diesem Namen veranstaltet wurde, egal ob bei Inquisitoren, Jihadisten und anderen, wissen wir ja mittlerweile... Ich kann daher nicht mehr davon schreiben oder sprechen, und mache es wie Leonard Cohen: Für mich ist es nur noch G--t, ein Begriff, den keiner auszusprechen weiß.
Bei der Autofahrt von Deutschland nach Polen verfalle ich gerne in einen meditativen Zustand, denn Lesen beim Fahren tut meinem Gleichgewichtssinn nicht gut. Da diese Weihnachten genau auf Hanukkah-Beginn fällt, habe ich mir vorgenommen, beides zu zelebrieren, einfach aus dem Grund, dass Jesus auch Jude war... und ich eh nicht daran glaube, dass er der Sohn G--tes ist (aber dazu später mehr). Also driftet mein Geist mit der Straße, ich verfalle in kurze Halbschlafetappen, die Musik wechselt mit der Landschaft. Ich denke tatsächlich an Jesus, den Juden, und dann auch an Mohammed, den.... was war Mohammend vom Glauben her, bevor er zur Weisheit des Islams kam?
Eine kurze Recherche hat Interessantes ergeben, weil sich auch viele vor mir schon diese Frage gestellt haben. Meist war die Antwort sehr enttäuschend: Weil er der Prophet ist, ist er ein "G--tergebener" und deswegen spielt es anscheinend keine Rolle, in welcher Religion er hineingeboren wurde. Ich verstehe diese Argumentation, aber sie erklärt nicht, welcher Mensch dieser Prophet war, sie lässt es sogar vollkommen aus. Das ist nicht fair, weil sich dahinter immer noch Personen aus Fleisch und Blut verbergen, die ihre Ängste und Sorgen mit sich trugen. Die mit anderen Menschen lebten, bevor sie jeweils ihre Form der Erkenntnis fassten. Die in eine bestimmte Kultur reingeboren wurden, ob sie es wollten oder nicht. So war Jesus eben Jude, und zählt nach dem Talmud immer noch zu einem wichtigen Propheten im Judentum.
Auf einer Seite mit der URL religiononline.de mit dem Thread zum Thema "Mohammeds Religion" kam ich auf die einzige Antwort, die am ehesten meinem Argumentationsansatz folgte. Dazu stellen wir uns jetzt mal ungefähr das Jahr 550 n. Chr. in Mekka vor, eine Stadt, in der zum einen viele Götter verehrt wurden, wie auch Christen und Juden gleichermaßen unter den Bürgern lebten. Soweit verifizierbar, war der Vater Mohammeds wohl ein Vertreter polytheistischer Vorstellungen, der mehrere Frauen hatte, und eine der Stiefmütter Mohammends war eine Jüdin. So wird der frühe Kontakt Mohammeds zu einer monotheistischen Glaubensvorstellung in frühster Kindheit schon ersichtlich, abgesehen davon, dass er sowieso seiner Zeit nach mit Christen und Juden in Verbindung getreten sein musste.
Wenn ich also wieder zurück zur Frage komme, ob ich ein religiöser Mensch bin, dann habe ich mich in den letzten Jahren genau darauf ausgerichtet: Religion ist etwas, das mir kulturell übermittelt wurde. Aber das macht mich nicht zu einem gläubigen Menschen. Die Ideen, die mit Jesus einhergehen, und die ich für mich übernommen oder verworfen habe, machen mich aus kultureller Sicht zu einem Katholiken. Ich habe die Rituale weitestgehend aufgenommen, da sie mich beeinflusst haben - sie sind als Zeichen in der Welt zu verstehen. Irgendwo lehrte mich diese Kultur auch fürchtig vor einer höheren Macht zu sein, zumindest habe ich das soweit für mich selbst abstrahieren können.
Meine kulturelle Idee von Religion habe ich schon einmal ein wenig erläutert (Gedanken zum Karfreitag). Hier stehe ich nun, und versuche noch einen Schritt weiterzugehen. Ich glaube nicht an den Begriff G--tes, also kann Jesus für mich auch nicht der Sohn eines Begriffs sein. Kann ich dennoch diese ominösen religiösen Gefühle haben? Das ganze Leben birgt eine Vielzahl solcher Momente, in denen Licht durch die Brüche dringt und wo Dankbarkeit, Hoffnung, Liebe eine komplexe Gefühlswelt hervorrufen. Vielleicht ist es das. Aber vielleicht auch der einzigartige Moment der Kongruenz mit anderen Menschen. Diese Frage kann ich nicht profan beantworten.
Letzten Endes inspirierte mich die Antwort, die L. Cohen auf diese Frage in den 1980ern gegeben hat:
I'm religious in the sense that I know the difference between grace and guilt.
Noch bin ich dabei, diesen Satz zu entziffern, aber es ist dieser Subtext, den er mit zwei sehr starken und gegensätzlichen Gefühlen in Spannung bringt: Schuld und Gnade. Oder Schuld und Anmut. Was sich zwischen diesen Begriffen bewegt, ist eine turbulente Reise der Selbsterkenntnis und Reflektion. Wir nehmen die Schuld auf uns, und nur wir können die Gnade für uns akzeptieren, egal ob sie von außen auf uns gerichtet wird oder nicht, um in Anmut zu leben. Ich denke schon, dass ich letzten Endes ein religiöser Mensch bin, nur nicht in dem Sinne, wie es die plumpe allgemeine Vorstellung vorlegt. Zwischen Schuld und Gnade und Anmut finde ich auch Sex, und Liebe, und Erkenntnis. Wenn ich nur will.
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