Die Leiden des jungen Tomala

Puuh... die letzte Woche in Japan ist angebrochen, und obwohl ich großkotzig von tausend Blogeinträgen geschwärmt habe, blieb mir doch die Spucke beim Tippen weg. Zu viel habe ich erlebt, und zu wenig Muße, um diese kostbare Zeit hier in einem Land, das ich offiziell wirklich meine große (Länder-) Liebe nennen kann, mit Bloggen zu verschwenden. Die Aufregung bleibt ständig auf einem hohen Level wie in einem Dopamin-Rausch deluxe. Die Energie hat sich wieder aufgefüllt nach einem Jahr großer Hürden und Leiden, und diese Energie ist so krass elektrisierend, dass ich oft laufen gehe. Doch selbst nach einem 10km Run quält mich diese Verliebtheit beinahe, dass ich eines Nachts im Schlaf anscheinend mit ganzem Körpereinsatz mein Laptop-Bildschirm zerschmettert habe und meine Brille nur knapp dem Totalschaden entkommen ist.
Schreiben ist aber nun mal auch ein innerer Drang von mir, und aufgrund einer Erkältung, die ich mir mit Fieberschwitzen, Vitamin C Boosts und Chillen abzuschütteln versuche (wieso ausgerechnet in der letzten Woche?!?!), finde ich die Muße, und zugegeben auch Langeweile wieder, um selbst mit Smartphone-Schreiben, das ich wie die Pest hasse, meinen neuen Blogeintrag anzufertigen. Wie will ich das alles also aufholen? Schritt für Schritt versteht sich.

Es gibt also keinen besseren Einstieg, als eine Zusammenfassung der letzten zwei Wochen anzufertigen. Geplant war nach "Episode:1 Augmentation", meine zweite Woche als "Episode:2 Conquering TOKYO" zu betiteln. Denn das tat ich, und in späteren Posts gehe ich jeweils auf meine eigenen Eindrücke näher ein. Die ganze Woche über nahm ich die Stunde Fahrt nach Tokyo auf, setzte mich an jedem unterschiedlichen Wochentag an einem bestimmten Stadtteil ab, und bin im Grunde die ganze Zeit nur rumgelaufen, hab Fotos gemacht, Hunger empfand ich nicht aufgrund meines Abenteuerwahns, und so die Straßen mit einem gewissen GTA-Lebensgefühl kennen gelernt und zu meinen erklärt. Die Stadtteile Tokyos, die ich bis jetzt bereits mit Fahnen der Eroberung geziert habe: Shibuya, Akihabara, Harajuku, Shimokitazawa, Shinjuku, Ueno, Odaiba. Was das im Grunde bedeutet, wie gesagt, kommt nach.
Zweites wohl wichtigstes Ereignis, im Grunde eine eigene Episode nach dem Straßenfeldzug Tokyos, ist meine langersehnte Wiedervereinigung mit meiner japanischen Familie, die ich seit acht Jahren nicht mehr live zu Gesicht bekommen habe. Ja, ich habe tatsächlich eine authentische japanische Familie, die ich meinem Urgroßonkel zu verdanken habe, der über abenteuerliche Wege durch Sumatra meinen Nachnamen TOMALA bis nach Japan bringen konnte. Die Großmutter meines Cousins und meiner Cousine 3. Grades in Japan war eine sehr wichtige Person für diese, und sie liegt nun mit ihrem in römischen Buchstaben eingemeißelten Geburtsnamen Tomala tatsächlich auf einem Familiengrab dieses japanischen Zweigs. Aber selbst außerhalb dieser surrealistischen Begebenheit ist mir meine Familie so nah hier, wie das nur schwer für Außenstehende zu verstehen ist. Ich bin eh daran gewöhnt, dass meine Familie immer weit weg von mir lebt, in Deutschland habe ich nur Vater und Mutter, also bin ich auch eine gewisse Distanz gewöhnt, die eine Familie eher nur von der guten Seite beleuchtet. Was mir im Grunde nur recht ist.
Fakt ist, dass wir gemeinsame Vorfahren haben, und nicht nur das, sondern dass wir uns auch auf einem tiefer liegenden psychologischen Level so gut verstehen, wie vielleicht selten nur Japaner und Westler zueinander empfinden können.
So war meine Aufregung für den Tag, an dem ich sie, die Familie, endlich wiedersehen sollte, einfach nur erdrückend abgefahren. Es war, als ob ich eigentlich ein ultrasüßes Mädchen für ein Date treffen wollte, das ich meinetwegen seit Jahren nicht mehr gesehen habe, aber immer mit einer Verknalltheit in Erinnerung behielt. So nervös und unsicher war ich. Da beschäftigen einen dieselben Fragen wie bei einem Date solchen Ausmaßes: Viel ist in diesen acht Jahren geschehen, Menschen in der Familie sind gestorben und auch geboren worden, die Welt hat sich mehrmals um 360 Grad gedreht und alles komplett neu zusammengewürfelt. Würde man da also das Bild der Vergangenheit aufrecht erhalten können,  dass man nahezu idealisiert hat, oder findet man wieder so schnell zu einander, wie man es bereits erlebt hat? Oder nun in konkreten Fragen formuliert: Werden sie mich noch mögen, mich noch interessant und als charmant empfinden? Werden wir uns was zu erzählen haben? Wird ein Gespräch überhaupt entstehen können?
Ja, um es kurz zu machen, und die Länge meines Aufenthalts hat das Band zwischen uns sogar noch stärker werden lassen. Besonders zu meiner Cousine 3.Grades Mika (wohlgemerkt eher im Alter meiner jungen Eltern) habe ich ein starke Zuneigung entwickelt, die der zu einer Schwester wohl im Entferntesten nahe kommt. Sie hat mich auch bereits unabhängig von meinen Gefühlen als Bruder aus Deutschland bezeichnet, was ich sehr rührend finde. Wahrscheinlich liegt es aber auch daran, dass sie trotz allem Anschein und äußerer Gepflogenheiten doch auch definitiv einen Teil europäische Seele besitzt, wie ich wohl in meinem früheren Leben durchaus ein Japaner gewesen sein könnte. Wir haben die Schnittstelle für einander gefunden. Vor acht Jahren waren es bereits solche simplen Dinge wie Twin Peaks oder Jim Jarmusch-Filme, die uns nahe waren, und auch jetzt zeigt sich, dass sie sogar so schwere Konzepte wie meinen Surrealismus irgendwo zu verstehen scheint, auf jeden Fall aber mit staunender Interesse akzeptiert.
Aus einer kurzen Zusammenfassung wird ein immer längerer Beitrag.
Danach wurden Freunde gemacht, wo ich auch nur hingefahren bin. Der pazifische Ozean, Autofahrten durch die Landschaft der Präfektur Chibas, Yokohama (eine Shanghai-Remineszenz!), ein näheres Verständnis des japanischen Lebens und die Überzeugung davon, dass jeder, der Pokémon auf dem Gameboy gezockt hat, im Grunde schon ein ziemlich gutes Gefühl und die Geographie und Städte des japanischen Lebens kennen gelernt hat. Was mich dazu brachte, wieder Pokémon auf meinem Smartphone zu spielen (was ebenso Grund für den so späten Post sein könnte).
Des Weiteren beschäftige ich mich mit Baseball hier, der abgefahrenen Insektenwelt, das japanische Fernsehen, und was weiß sonst nicht alles. Manchmal merke ich, wie ich am Tisch mit den anderen einfach nur dasitze und diese ganze Atmosphäre aufsauge und genieße, anstatt des Japanisch der anderen verständnislos dreinzublicken oder sich zu langweilen. Nein, wirklich jeder Moment hier wird genossen, jede verfickte kleine Brise in meinem Gesicht ist wie der Atem irgendeines Gottes, der mich segnen will.
Über das gesamte letzte Jahr habe ich durch die Uni das Gefühl bekommen, immer mehr ein Stück von mir einbüßen zu müssen, langsam aber sicher, und das hat mich ständig gequält. Entwurzelt, möchte man sagen, also warum dieses scheiß Studium machen? Die seelische Erholung hier in Japan schließt mich wieder an meine Wurzeln an. Vielleicht verändert sie aber auch was in mir, und ich werde mir mehr und mehr bewusst, dass es tatsächlich mein gelobtes Land werden könnte. Aber für diese Art von Selbsterkenntnis ist es wohl noch zu früh, der Kontrast zu meiner wirklichen Heimat wird mir erst wieder mehr Aufschluss geben.
In dem Sinne.... es folgt bald gezielt mehr aus diesem und über dieses Land, versprochen.

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