Crazy Boy

Das ist es, danach habe ich getrachtet. Das wahre japanische Leben. Der dental student aus Deutschland hat die Ehre, mit den Ärzten und Krankenschwestern in einem Yaki-niku zu Abend zu tafeln, und dabei wird er Zeuge, wie die Japaner entgegen all unserer Klischeebilder wirklich sind: Sie trinken gerne, lachen viel und wissen Business von Freizeit fabelhaft zu trennen.
Wir haben den bereits angetrunken Arzt, der sehr offen zu mir spricht und den Regeln zum Trotz sich mit Vornamen vorstellt - Isho - und trotz seiner Offenherzigkeit im Laufe des Abends so dermaßen besoffen wird, dass er kurz vorm lustigen Eskalieren ist. Dann haben wir den Chefarzt Sato-sensei, der ein Gesicht macht wie ein Emo, und tatsächlich Hardrock/ Heavy Metal-Fan ist, Scorpions liebt und auf Facebook so ein witzig zutreffendes Cartoonbild von sich als Profilbild hat, dass ich ihn allein dafür gerne bei Fb als Freund haben möchte. Und dann wären da zu guter Letzt die Krankenschwestern, alle Ü30, und schnell kommt der Witz auf, welche ich von allen auswählen würde. Ich meine what the fuck?! Schnell werden in Japan solche Witze gemacht, sobald ein wenig Alkohol und Freizeit im Spiel ist. Milf City.

Die Stimmung ist also sehr gelassen. Isho wird von Minute zu Minute betrunkener. Aber Sato-sensei versichert mir, dass er ein sehr guter orthopädischer Chirurg ist, der von den Krankenschwestern auch sehr gemocht wird - nur nach 6pm wird aus einem seriösen Arzt ein crazy boy. Angeblich ist er schon so weit gegangen, sich im Lokal auszuziehen, bis die Polizei gekommen ist und ihn verhaften musste. Das meine ich mit lustigem Eskalieren im CALIFORNICATION-Style!
Irgendwann sitze ich mit der anderen Hälfte der Frauen zusammen und in einer Mischung aus Japanisch und Englisch haben wir eine sehr angenehme Konversation über... mich. Es ist leichter für eine Gruppe, einen Einzelnen mit Fragen zu bombardieren, als für mich eine ganze Gruppe. Wie schon in Shanghai muss ich mich dem Ausfragegewitter stellen, ob ich Japanisch spreche, warum ich Japanisch lerne, wie lange ich hier bin, ob ich schon mal hier war, ob ich meine Freundin heiraten werde. Dass ich gut aussehe, gute Fingernägel habe (und wieder: wtf?!) und überhaupt alle japanischen Bezeichnungen für "Du bist der Geilschte" abbekomme, die da wären sugoi, kakkoii und saikou, ist so über alle Maßen ungewohnt, dass selbst der Fremde unter einem fremden Volk einfach mega entspannen kann und den Abend genießt.
Das muss ich den Japanern lassen. Ihre Gesellschaft ist hart, diese Menschen müssen sechs Tage die Woche schuften mit nur minimal Urlaub in Jahr, aber nach Feierabend ist "Living ze good life" angesagt. Wobei es wohl auch wenigen stört, dass der gute alte Isho im Grunde ein Alkoholiker ist, der jedoch sehr kontrolliert damit umgehen kann. Der Wertemaßstab liegt da in anderen Bereichen. Alter ist wichtig; gerne erwähnen sie, dass sie gleichaltrig sind oder wer älter und wer jünger ist, irgendwo da steckt die Hierarchie immer noch. Doch an jedem guten Abendessen mit Freunden und Kollegen fallen die Mauern, und Dionysos gleicht alle an. Dem Herrn Sato habe ich noch wärmstens Rammstein ans Herz gelegt, alle sind freudig aus dem Lokal gegangen, paar Fotos und Selfies - natürlich mit mir - und dann haben alle glücklich und zufrieden den Heimweg gefunden. Ultra. Wer braucht schon Gleichaltrige, wenn er sich mit älteren Japanern so gut und lustig unterhalten kann. Unvergesslicher Abend.

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