Von Darmschlingen zu Schmetterlingen

Von Ulm nach Lübeck nach Hamburg nach Frankfurt/Main nach Tokyo/Narita Airport nach... Chiba. Angekommen.
Ein wenig jetlagig, und obwohl die biologische Uhr in mir meine Hauptaktivitätszeit nach Mitternacht anzeigt, die jedoch angesichts meines Wagnis von sieben Stunden in die Zukunft zu reisen etwas Fehl am Platz ist, fühle ich mich relativ fit. Auch der Kulturschock trifft mich absolut nicht, so sehr fühle ich mich hier wohl und gut behütet. Nur das Internet macht mir Sorgen,  so scheint erstmal die Gleichung von Laptop + WLAN-Passwort = unbegrenztes Internet zu Hause nicht bekannt zu sein, wobei ich auf dem besten Wege bin, mobiles Internet in Japan zu erhalten.
Der Flug war entspannt, gab nicht viel zu sehen, nicht viel zu machen, und das Hipster-Päarchen neben mir gab jetzt auch null Gesprächspartner ab. Das Essen war, auch wenn ich mich jetzt des typischen Flugreview-Musters bediene, schlicht und ergreifend in Ordnung. Es war nicht zu lecker und nicht zu abartig, auch nicht zu viel und zum Glück nicht zu wenig. Natürlich habe ich das japanische Menü (Beef=Deutsch, Chicken=Japanisch) genommen, was für die übliche Flugzeugessen-Hasstirade zu gut war. Soviel zum Flug.

Nach einem ganzen langen Tag in Chiba (ca. 30km östlich von Tokyo), Jetlag und dem härtesten Semester seit Studienbeginn musste sich mein Körper regenerieren. In meinem kleinen, aber extrem feinen Zimmer im japanese style habe ich unter verdeckten Fenstern wie ein Pharao geschlafen. Buchstäblich - ich bin erst um 15 Uhr des nächsten Tages aufgewacht, habe aber damit insgesamt locker ZWÖLF STUNDEN nahezu im Koma verbracht. Mein Smartphone, auf dem Klo liegen gelassen, hat mich durch zwei Türen hindurch zurück zu den Lebenden gestresst. Ich tendiere dazu, zu verschlafen, mein Wecker war spät und mit aggressiver lauter Musik (Faith No More) eingestellt. Also gab es eine Art Höflichkeitsinstinkt, der mich vor einer peinlichen Situation retten sollte, weil ich darauf eingestellt war, es wäre früh am Morgen.

Resetting in Japan, das hatte ich endlich nötig.

Die Familie Murotani ist eines der wohl geilsten Familien, in die ich hätte aufgenommen werden können. Dr. Rentaro Murotani, Orthopäde, ist ein sehr lockerer, offener und großzügiger Mensch, der keinerlei Berührungsängste aufweist. Von Anfang an fragt er, erzählt er und lernt mich von Grund auf kennen. Und dabei kann ich mit ihm sogar über Anime sprechen - Dragonball, Attack No. 1 (auf RTL 2 damals bekannt als Mila Superstar) sind trotz unserer Altersdifferenz gemeinsame Einflüsse unserer Kindheit.
Gelebt wird in einem kleinen schicken zweistöckigen Haus mit Garten, das irgendwo zwischen westlichem und alten japanischen Design eben das moderne Japan ausmacht. Zwei große Hunde, die im Garten sich freuen mich zu sehen: der dümmliche, verspielte Ted und die elegante, Diva-mäßige Sherry. Die Umgebung weist viele Häuser ebenso quadratisch-praktisch-gut, die alle stilistisch aber etwas unterschiedlich sind, Individualismus da, wo in Deutschland reine Konformität herrscht. Ich habe sogar eines der abgefahrensten Wohnhäuser überhaupt gefunden, die wie eine Science Fiction Wohnkugel aussieht.
Naoko Murotani ist neben ihrer blood type B-Persönlichkeit (anscheinend ihre Art der Sternzeichen) und einem weiblich modernen Stil auch ein Beispiel für Anachronismus. Während der Mann ziemlich viel arbeiten muss und so die Familie finanziell versorgt, ist sie eine Hausfrau. Es fühlt sich für mich schon seltsam an, wenn eine Frau alles im Haushalt macht, die Einkäufe erledigt und dennoch vom Mann kaum Hilfe angeboten bekommt. Ein wenig europäische Höflichkeit der Frau entgegen von meiner Seite kommt somit auch nicht schlecht an. Sie spricht kaum Englisch, was aber letzten Endes eine Herausforderung zur Vebesserung meiner fucking Japanisch-Kenntnisse ist. Sie kümmert sich gut um mich und ist immer wieder erstaunt, was ich alles an japanisches Essen mag und probieren will (und langsam bin ich davon überzeugt,  wie gut das japanische Essen wirklich ist!).
Der Sohnemann des Hauses namens Shunsuke ist ein wenig schüchtern - für japanische Verhältnisse; also nochmal zehnmal schüchterner als junge Kids meiner Heimat heutzutage. Zum einen ist es gut, da er eine interessierte Seele zu sein scheint und Lust auf's Lernen zeigt, zum anderem wollen wir sprechen lernen, und dafür brauche ich eine funktionierende Zunge. Je länger ich hier bin, habe ich eh den Verdacht, dass mehr Rentaro vom Gespräch mit mir und meinen Kenntnissen profitieren möchte. Vielleicht ist der Junge aber einfach sehr sensibel und braucht seine Zeit, um mit mir warm zu werden. Was ich bisher beobachten konnte und was mir gesagt wurde, spricht dafür, dass er sich freut über meine Anwesenheit im Haus.
Es gibt dann auch noch die Eltern von Naoko, Ehepaar Kobayashi. Noch herzlicher von den Großeltern in Japan aufgenommen zu werden, kann ich mir auch nicht vorstellen. Er gleich enthusiastisch mit der Translation-App stellt sich auf Deutsch vor, und sie verbeugt sich tief und erinnert mich mit ihrer fröhlichen und sehr lieb grinsenden Art sowie der Frisur und dem Körperbau an eine japanische Version meiner lieben Oma. Für sie ist alles, was ich sagen kann und auf japanische Weise zu machen weiß sugoi (das japanische Äquivalent zu cool), und er verbindet mich auf seinem Handy gleich nach dem Essen mit seiner ehemaligen Schülerin, die für eine Japanerin so ultragutes Deutsch spricht, dass ich verwirrt war, ob ich mit einer Deutschen oder Japanerin rede (er zeigte sie mir danach, etwas älter dem Foto nach und ziemlich hot!). Und ich glaube, er will gern mit mir saufen, denn von Anfang an fragt er Doctore: "Biru Biru Biru?" (Na, und was das heißt, brauche ich ja nicht zu übersetzen.)
Natürlich ist in der kurzen Zeit auch was Seltsames passiert. (Ich habe mich schon gefragt, wann das geschehen würde.) Als Naoko und ich auf dem Weg waren, in der City Rentaro zu treffen, sprachen mich zwei sehr komische Kauze an, denen ich zurück grüßte. Der eine tat so, als verstünde er mich nicht, legte seine Hand ans Ohr und machte die Geste eines Schwerhörigen. Dann wollten die beiden näher kommen, Naoko aber zog mich beim Telefonieren bereits am Arm, was mir nur eines symbolisierte: Ignoriere diese Typen. So drehte ich mich um, ging mit ihr und hörte hinter mir seltsame Rufe, die uns erstmal zu folgen schienen. Ich meine, sie sahen nicht gefährlich aus oder so, aber ganz dicht waren die tatsächlich nicht.
Mein weiteres Vorgehen: erst Akklimatisieren, dann Losziehen. Bewaffnet bin ich bereits mit mobilem Internet auf dem Smartphone, japanischem Klapphandy der Firma Docomo und einer sogenannten Pasmo-Karte für stylisches Bahnfahren in Tokyo und Umgebung. Dieser Blog hat drei Tage in Vorbereitung gebraucht. Wie es halt immer so ist: Der Anfang ist wie ein fetter Faustschlag in die Magengrube, durch den sich die Darmschlingen zu Schmetterlingen verwandeln. Ich weiß eigentlich noch gar nicht richtig, wie es um mich geschieht. Episode 1: Augmentation betrifft diese erste halbe Woche in Japan. Ich sage schon mal: domo arigato gozaimasu.

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