Glory Days

Am Sonntag den 26. Juni 2011 wurde ein Theaterstück uraufgeführt, das als reinster Guerilla-Akt nur einmal vor einem Publikum präsentiert werden sollte. Egal, wie es ausgegangen wäre, es geschah für die Ewigkeit. Dabei handelt sich um ein Stück, das eine lange Entwicklung hinter sich hat voller harter Rückschläge, günstiger Weiterentwicklungen und einer Spur guten Wahnsinns. Zu meinem Glück durfte ich ein Teil dieses Projekts sein, das Timo Baer initiiert hat. 





Am Ende bleibt nur eines: die Katharsis des Feuers.  
Ein Bericht von Jacob Tomala.



Guerilla-Ensemble von GLORY DAYS: Timo, Tamara und Jacob.

Glory Days, geschrieben und inszeniert von Timo Baer in 2010/11, ist ein Drama der Realitätsbrüche. Tamara ist eine junge, aufstrebende Schauspielerin, die früh und in kürzester Zeit hohes Ansehen in der Öffentlichkeit erlangt hat. Jedoch kommt sie mit diesem schnellen Ruhm und dem darauffolgenden Medien-Hype psychisch nicht klar, nachdem ominöse Bilder von ihr auftauchen und diese ihren Ruf mit einem Schlag zu wenden drohen. Genauso zerbricht ihr Privatleben - ob es die Trennung mit ihrem Freund betrifft vor dem Höhepunkt ihrer jungen Karriere, oder das Zerwürfnis mit ihrer Familie und der kalten Stille, die nun zwischen Mutter und Tochter besteht. Sie fällt in ein Loch von Manie und Depression, verschanzt sich zu Hause und gibt sich ihren Hirngespinsten hin.

Wer dieses Stück sieht, muss mit Brüchen der Ontologie auf mehreren Ebenen rechnen. Dies beginnt bereits im Skript. Dort steht: die Namen der Rollen an den Schauspielern anpassen. Tamara wird somit von Tamara Vernik gespielt. 
Nun soll Tamaras Leben und Karriere selbst Thema eines Films oder Theaterstücks werden. Sie wird bereits als geendetes Dasein begriffen; wie bei einem Kadaver werden die letzten verwertbaren Reste rausgeschlagen für das letzte bisschen Geld, das mit einem Produkt, wie sie es abgibt, gerissen werden kann. Paradoxer Weise wird ihr das erst klar durch den Auftritt des Regisseurs, verkörpert durch meine Wenigkeit, die Parodie einer leicht tuntig angehauchten, snobistischen Künstlerpersönlichkeit. Seinen Auftritt hat der Regissuer aus den Zuschauerreihen heraus (ein Schock für Uneingeweihte), gibt Tamara wie in gewöhnlichen Proben Regieanweisungen, wie sie besser zu spielen habe, und versucht später auf brutale Weise, das Rest-Potenzial aus ihrer emotional überlasteten Seele herauszutreten. 
Als dann Timo, der Exfreund Tamaras, gespielt vom Autoren und tatsächlichen Regisseur selbst (ohne die Beziehung in der Realität zu teilen), schüchtern und nervös auf die Bühne kommt, wird bereits ein erster Ausblick auf Tamaras gefährlichen Paranoia gezeigt - in einer brutalen Attacke bringt sie Timo zu Fall, und scheint ihn mit dem Messer an der Kehle bedrohend erst nach längerer Zeit endlich zu erkennen. Dieser ist erschienen, weil er sich um seine einstige Liebe sorgt, doch das Gespräch verläuft nach dem ersten Schock noch weniger zutraulich: verschreckt  und distanziert lässt der Dialog keinen Spielraum für eine Annäherung. Die Entfremdung zwischen Timo und Tamara ist nicht mal mehr durch ihre Nostalgie an gemeinsame Tage zu überbrücken. 
"Ein Dopperlgänger!", schimpft der Regisseur, nachdem Timo von sich aus wieder gegangen ist. Ob der Regisseur nun Freund oder Feind ist, wird völlig unklar. Zum einen scheint er gerade der Mensch zu sein, der Tamaras Leben inszeniert, doch gleichzeitig macht er sie auf die Gefahren hin aufmerksam, bei denen sie für dieses Stück ausgenutzt wird, und will über seine guten Absichten aufklären. Sein Janusgesicht ist das der Medien, die gleichzeitig Schöpfer und Zerstörer sind. Der Regisseur verführt Tamara dazu, mit der Schusswaffe in der Hand, dem ganzen Frust um ihre zerbröckelnde Existenz als Schauspielerin ein Ende zu machen, in dem sie Timo - oder eben nur seinen Doppelgänger - erschießen soll. "Du musst verdammt nochmal auf mich hören, klar!"
Welcome to the red room... Gang ins Theater Partout
Wie schon zuvor mit dem Messer ruft Tamara in einer suizidalen Geste mit der Schusswaffe am Kopf den nichtsahnenden Timo zu sich, um zu testen, ob sie den Worten des Regisseurs Glauben schenken kann. Doch dieser hat sie mittlerweile so sehr verwirrt, dass sie gar nicht erst versucht, objektiv und fair zu urteilen. Ihr Kopf droht zu platzen, und während die Situation zwischen den beiden Ex-Geliebten emotional eskaliert, zieht Tamara die Waffe und bedroht den im Streitgespräch laut gewordenen und schlagartig eingeschüchterten Timo. Dieser versucht, sich ihr wieder anzunähern und der bedrohlichen Situation Herr zu werden, doch der Regisseur bricht herein und steht Schulter an Schulter mit Timo vor der verrückt gewordenen Schauspielerin - eine überraschende Spiegelung. Timo sieht seinen Gegenpart nicht. Doch der Regisseur, der kongruent zu Tamaras aufbrechenden Zustand selbst Ticks und Konvulsionen aufweist, spricht weiter verzweifelt auf Tamara ein und schlägt verbal gegen Timo aus. Letztlich bricht die junge Schauspielerin zusammen, ihr einstiger Freund fängt sie auf und der Regisseur, der seine Niederlage kommen sieht, ruft ein allerletztes "ER IST NICHT REAL!" aus - bevor er von Tamara mit seiner eigenen Waffe niedergeschossen wird.

Was jetzt stattfindet, ist der polarisierendste Bruch des ganzen Stückes. Timo versucht Tamara zu beruhigen, die nun völlig ausgelaugt in seinen Armen liegt. Doch dann eine plötzlichen Verwandlung, die verstört und erschreckt: Timo entpuppt sich als ein gefährlicher Irrer, der in seiner eigenen Verzweiflung Tamaras Abhängigkeit braucht und sich daran aufgeilt.

Timo: Du brauchts mich, oder? Sag, dass du mich brauchst!
Tamara: Ich brauche dich...
Timo: Du... du bist abhängig von mir!
Tamara: Du bist mein Heroin.

Sie ist nur noch eine willenlose Puppe, und diese Puppe erhebt sich für den letzten schizophrenen Aufschrei, der Tamara von ihrem Menschlichen noch geblieben ist. Es folgt die rührendste und zugleich verwirrendste Poesie dieses Stücks, in der sich Tamara auf den Knien richtet und ihre berühmten letzten Worte spricht.

"Ich bin kein - Mensch. Ich bin ein Produkt. (...) Ich trage die ganze Liebe dieses Universums in mir! Ich bin nur ein leeres Gefäß... (...) Ich möchte eine Pyramide erschießen! Anteil am Ende der Geschichte haben! (...)"

Der irrsinnige Timo steckt ihr Pillen in den Schlund, um sie - heftig röchelnd - zu beruhigen. Er flüstert, der Dämon möge von ihr und zurück in die Hölle entweichen, er wird leise... um dann ein bekanntes Lied aus einem Midnight-Kinoklassiker zu singen. 
In Heaven everything is fine
In Heaven everything is fine
You got your good things and I've got mine

In Timos Gesang einstimmend richtet sich der Regisseur wieder auf, doch einem Toten gleich, der in einer unmenschlich und daher fremdartig, verstörend wirkenden Körperhaltung langsam auf Tamara zukriecht, um ihr die Waffe ein weiteres und letztes Mal zu reichen. Sie ergreift diese wie in Trance, hält sich die Knarre an den Kopf - und das Licht der Bühne geht aus.

Ein paar Worte zum Stück
Timo Baer hat dieses Stück als einen düsteren, medienkritischen Psychothriller charakterisiert. Ob nun die Rolle der Schauspielerin Tamara all die anderen Charakter selbst erspinnt hat und es damit ein Einblick in ihre geistige Verfassung ist; oder die Frage nach Realität und Illusion keine Rolle spielt, sondern einfach Anteil an der verstörenden Welt dieses Theaterstücks genommen werden muss ist natürlich jedem frei zu entscheiden. Sicher ist jedoch, dass man als Zuschauer, Publikum, als Öffentlichkeit direkt im Stück einbezogen und verurteilt wird. So zwingt Timo Baer die Mitmenschen zum Mitdenken ein, eingeschlossen als passiver Teil des Stücks. Die Katharsis, die dieses Theaterstück letztlich erzeugt, ensteht durch die verzweifelte Lage, in der die Protagonistin bis zum Ende ihres Daseins sich winden und leiden muss. Es ist vielleicht mehr denn je einem klassischen Theaterstück der Antike ähnlich, dem Ruf zur Menschlichkeit zu folgen, wahre Literatur; doch im selben Moment bricht es die Gesetze und präsentiert sich als Revolte gegen die Zuschauer, als wahre Anti-Literatur. Tamara spielt im ganzen Stück mit den zwei klassischen Waffen des Selbstmords: das Messer aus der Antike und der Revolver aus der Neuzeit - und am Ende ist es keine Katharsis des Wassers oder des Blutes, sondern schlichtweg des Feuers, das von innen sich entzündet hat.


Die Musik, das Hauptthema, ist von unserem Freund Robert Peksa geschrieben und aufgenommen worden und unterstreicht in seinem minimalistischen, psychedelischen Sound die verlorene und zugleich von seltsamen arhytmischen Ticks ausbrechende Atmosphäre, in die sich Tamara am Anfang des Stücks begibt und die sich ihrem Seelenleben wie ein weißes Rauschen im Radio anpasst. Dieses zwei Tracks, die ursprünglich nach der Pilzdroge Psilocybin benannt wurden, gehen unter die Haut und setzen ihre Sporen in die Erinnerung.
Auch das von Scarlett Johansson gesungene Cover eines Tom Waits-Songs namens Falling Down ist eine musikalische Perle, die in die Inszenierung perfekt integriert wurde. Tamara verfällt unter der Stimme der singenden Schauspielerin Johansson - die ebenso jung ihren Durchbruch hatte, aber im Gegenzug ihre Karriere problemlos erfolgreich weiterführen kann - in einen süßen, melancholischen Rausch. Ihr letzter großer Versuch, dem Wahnsinn zu entkommen. Doch selbst die Musik als Fluchtmittel hat ihre heilenden Kräfte verloren, für einen Moment blinkt sie zwar noch durch, aber die Verzweiflung ist bereits zu groß.
Das Schlusslied entstammt aus David Lynchs "Eraserhead" von 1976, dem großen Debüterfolg des Filmemachers. In einem Nihilismus wie Büchners Woyzeck verliert selbst die Vorstellung des Himmels als Heimat all ihre Freundlichkeit und Unantastbarkeit, wenn sie von solchen abstrakten Monstern wie Timo oder dem Regisseur besungen wird. Am Ende bleibt nur eines: die Katharsis des Feuers.

OST 
Hallucinogen Persisting Perception Disorder Part I & II (früher: Psilocybin) von Robert Peksa

Falling Down von Scarlett Johansson (Tom Waits-Cover)

In Heaven aus dem David Lynch Motionpicture "Eraserhead"

 

Notiz: Mirco Melchert als fünfter Mann hat die Technik bedient und seine Arbeit während der Aufführung reibungslos durchgezogen. Während der Proben hat er uns mit seinem Humor beglückt. 
Das Theaterhaus, in dem wir gespielt haben, gehörte zum Theater Partout in Lübeck, wofür wir uns auch recht herzlich bedankt haben. Die Location hatte mit ihren dunkelgrünen und schwarzen Wänden etwas hervorragend Düsteres und Dionysisches an sich. 
Aufgrund Timos' Status als FSJ-ler an der Musikhochschule Lübeck wurde das Stück finanziell von der Musikhochschule Lübeck im Rahmen eines FSJ-Kultur-Projekts unterstützt.
Das Plakat habe ich entworfen. Außer den legalen Werbeflächen haben wir in einer Guerilla-Aktion eines Nachts die Bushaltestellen Lübecks mit Plakaten getaggt. Unseres Wissens nach waren die meisten zwei Tage später wieder entfernt worden. Hoffentlich waren das aber auch nur Leute, die das Plakat für gut befunden haben und für sich behalten wollten.


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