1Q84 // Review



Aomame nennt es 1Q84.
Tengo wiederum nennt es die Stadt der Katzen.

Doch beides beschreibt diese eine rätselhafte Welt mit den zwei Monden, dieselbe wie unsere, doch mit den kosmischen Unterschied von der Existenz der metaphysischen Little People, der Puppe aus Luft und dem Prinzip von Mother & Daughter.
In Buch 1 von Haruki Murakamis epischen Roman 1Q84 werden die Charaktere eingeführt und der Stein der Ereignisse zum Rollen gebracht. Tengo & Aomame. Beide ihre Geschichten wechseln sich von Kapitel zu Kapitel ab, ohne dass ihre Verbindung angedeutet wird. Das erste Kapitel //Aomame scheint die eigentliche Triebkraft für die folgenden Ereignisse zu sein// ist sehr eindrucksvoll, da Aomame wie in einem Lynch-Film durch ein ontologisches Tor wandert, ausgestattet und untermalt durch den ahnungsvollen Rat eines Taxifahrers »sich nicht vom äußeren Schein täuschen [zu] lassen« und der Sinfonietta des tschechischen Komponisten Janáček [hier verlinkt zum Anhören] über ein UKW-Radio. Und so vom Jahr 1984 in 1Q84 landet.
Tengo beginnt dabei am Anfang seiner Geschichte einem Ereignis zu verfallen, das gefährlich nah an einem Literatur-Skandal flankiert, und erfährt über das Manuskript der 17-jährigen Fukaeri zum ersten Mal im Detail über die Geheimnisse dieser neuen Welt, in der er sich noch nicht präsent weiß, und daher die Geschichte zuerst nur als Fiktion anerkennt.

Aomame ist Trainerin in einem Sportstudio, um die 30 Jahre alt und ledig. Nebenbei hat sie aber ihre dunkle Seite: Sie agiert als Auftragskillern für eine mächtige, alte Dame, welche ungelöste grausame Verbrechen an Frauen aufdeckt und durch Aomames mysteriöse Fertigkeit Vergeltung ausübt.
Tengo ist dreimal in der Woche Mathematiklehrer in einer Nachhilfeschule, ebenfalls um die 30 und ledig. Doch besteht seine eigentliche Leidenschaft im Schreiben von Romanen, für die er sich die restlichen Tage in der Woche hingibt. Auch er hat seine dunkle Seite: Unter Einfluss seines Verlegers Komatsu arbeitet Tengo als Ghostwriter für das Manuskript von Fukaeri, in dem er diesen reif für einen Literaturpreis macht.

Ich weiß nicht mehr, inwiefern sich die Beziehung zwischen Tengo & Aomame aufdeckt, aber sollte es in Buch 1 bereits geschrieben sein, geschieht dies langsam und allmählich. Fakt ist: Sie beide verbindet ein zauberhafter Moment in ihrem 10. Lebensjahr, den sie gemeinsam erlebt haben und der das Fundament für eine Liebe bildet, die 20 Jahre später im Zuge der Handlung ihren Kreis schließen sollte - um so die volle Macht dieser Liebe zu entfesseln.
In Buch 2 findet die Klimax statt, bei jedem für sich und doch auch gemeinsam, die Peripetie des Romans: Aomame tötet im Auftrag der alten Dame den Leader einer gefährlichen Sektenorganisation, was die ominösen Little People in Aufruhr versetzt, während zur gleichen Zeit Tengo ungewollt in einem von Fukaeri initiierten Sexritus miteinbezogen wird. Im Sturmwetter, der daraufhin ihre Welt umreißt, treffen sich Aomame & Tengo auf eine geheimnisvolle Weise wieder, ohne voneinander zu wissen. Doch wie sich in Buch 3 zeigt, sind der Leader und Fukaeri, die beide zueinander Vater und Tochter sind, eine metaphysische Brücke für Aomame & Tengo. Der Leader stirbt, aber ein Kind wird dabei in Aomame gezeugt, durch den Samenerguss Tengos in Fukaeri.
Soweit zu Buch 1 & 2, die hierzulande futuristisch in einem silber-hellgrün glänzenden Einband erschienen sind.

Buch 3, Kapitel 1 //nun vor allem grün glänzend, aber ebenso futuristisch// beginnt überraschenderweise mit der Geschichte einer dritten Person, Ushikawa, Privatdetektiv, der als Ausgestoßener der Gesellschaft und Außenstehender den Auftrag von der Sekte erhält, die flüchtige Aomame ausfindig zu machen. Als indirekter Feind für Aomame, Tengo und das Kleine entpuppt er sich dennoch als das nötige Risiko auf Messers Schneide: Auch er sieht die zwei Monde und führt dadurch Aomame & Tengo unwillkürlich zusammen.
Ushikawa, Aomame und Tengo.

Ushikawa leider muss sterben, um für Aomame, Tengo und das Kleine keine Gefahr mehr zu sein.
Nachdem sich Tengo & Aomame dann endlich von Angesicht zu Angesicht entgegen stehen, verbleibt ihre letzte Aufgabe dabei, aus 1Q84, die Stadt der Katzen, zu fliehen. Das letzte Kapitel 31 von Buch 3 ist nicht nur auf Aomame oder Tengo fokussiert, sondern vereint sie in «Tengo und Aomame». Es ist die Spiegelung vom ersten Kapitel in Buch 1, durch die beide ihren Weg raus aus der Welt mit den zwei Monden finden sollen. Der rückwärtige Weg mit dem Aomame in 1Q84 gelandet ist. Es ist ihr Instinkt, dass dies der richtige Pfad ist, aber noch umschliert sie der Nebel der Zukunft und Sorge.
Umso erfüllender ist es, dass sie beide am Ende des Tores nur noch den einen bekannten Mond sehen können - auch wenn es Anzeichen gibt, dass beide in einer dritten Alternativwelt gelandet sein könnten.

Was hauptsächlich und vor allem zu Anfang wie ein phantastischer Thriller um den Literaturbetrieb, um Sektierertum und Auftragsmorde wirkt, entpuppt sich als großer Roman über die LIEBE, über das Schicksal, wenn es zwei Menschen auf ewig miteinander bindet. 1Q84 wurde nicht umsonst auf dem Klappentext als "Romeo & Julia unseres Jahrtausends" bezeichnet.

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Die Geschichte ist, wie jeder Haruki Murakami-Roman, so flüssig geschrieben, dass es sich von selbst zu erzählen scheint. Der Roman ist dunkel und doch von einem warmen Licht umgeben, das in der Liebe zwischen Aomame & Tengo //und ihrer Zeiten und Welten sprengenden Sehnsucht zueinander// ihre Quelle besitzt. Was ist die Handlung? Eine realistische, magisch-realisitische, phantastische? Murakami sagt: Realismus. Ich sage: Surréalismus - und dabei meinen wir dasselbe, nur dass er es als völlig real akzeptiert, während ich noch aufgrund des snobistischen Stolzes meines Surréalistentums wegen eine begriffliche Abgrenzung mache. Das Geheimnis der Wirklichkeit.
In Murakamis Werken, auch in 1Q84, sind diese Geheimnisse vorhanden, aber sie werden als solche akzeptiert, auch wenn es den Protagonisten nie ganz leicht fällt. Der amerikanische Moment der Aufklärung und Verkausalisierung wird dem Leser dabei denlittlepeopleseidank nicht gestattet. Sie bleiben Geheimnisse:
Die Little People, die Puppe aus Luft, Mother & Daughter, die unbefleckte Empfängnis Aomames durch Tengo, und auch der geheimnisvolle NHK [sowas wie: GEZ]-Gebühreneintreiber, der möglicherweise Tengos Vater ist, obwohl dieser zur gleichen Zeit in einem Sanatorium mit Demenz im Koma liegt.

Genauso werde ich mich auch mit dunkler Freude an die Szenen aus Murakamis Kafka am Strand erinnern, als der junge Protagonist in einem Traum einen Mord durch die Whyskey-Ikone Johnny Walker beiwohnt, wieder aufwacht und seine Kleidung tatsächlich blutbefleckt ist, während kurz davor viele Kilometer entfernt dessen Vater mit einem Messer bestialisch ermordet wurde.
Oder als der Protagonist in Mister Aufziehvogel in die Dunkelheit eines Brunnens absteigt und somit in eine andere Dimension gelangt, in dem sich seine Frau in den Fängen ihres perversen und machthungrigen Bruders befindet. Dieser Bruder, in der Realität ein zu mehr Macht gelangender Politiker, verliert den Kampf in dieser Zwischendimension und kommt dabei in der wirklichen Welt auf mysteriöse Weise zu Schaden.

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