There Will Be No Miracles

»Suit up!« hieß es am ersten Weihnachtstag letzten Jahres, als ich von meinem Vater zu einer Ausstellung eingeladen wurde, die vielversprechend für mich klang. Sie fand in den Deichtorhallen Hamburg statt. Die Exponate führten mich durch ein spannendes Feld, mit dem ich mich so noch nicht auseinander gesetzt habe. Irgendwann stand ich dann davor: eine Fotografie des von mir geschätzten belgischen Surréalisten Paul Nougé – und hier war ich auch: traditionell gekleidet wie ein 1920er Jahre-Surréalist.


WUNDER
Kunst, Wissenschaft und Religion vom 4. Jahrhundert bis zur Gegenwart

Diese Ausstellung ist ein Genie. Zerstört ist der stumpfsinnige «Moderne Kunst für Hochkultur-Nerds»-Betrieb, die Arroganz löst sich auf und präsentiert sich genauso, wie es sein sollte: Kultur ist ALLES, die Grenzen zwischen Pop und Hoch müssen aufgelöst werden und sind es auch. Wie in dieser Ausstellung, in der nicht ein fehlbarer Künstler oder ein besonderes Medium zum zentralen Punkt werden, sondern ganz einfach ein Thema: Wunder.
Wunder geschehen, Wunder werden erlebt, sie werden aufgearbeitet und für Bullshit erklärt. Wunder geschehen jeden Tag, einige mögen sagen in Gottes Licht und Dunkelheit, andere in der Macht der Wissenschaft, und andere wiederum in den Mysterien der Wirklichkeit. Pokémon sind Wunderviecher, während andere Kulturen wunderlich erscheinen. Objekte können mit Wunder aufgeladen sein, oder auch Menschen können Wunder vollbringen. Scherzkekse sagen: Wunder sind Facebook, iPhones und die eigene Person [eigene AWESOMENESS]. Originärdenk-Allergiker zitieren hier Gott, den Menschen, das Leben und die Liebe herbei [langweilig].
 
Kunst...
Wissenschaft... (Meteorit)
... und Religion (Votivbilder)
Gut, was mich jetzt wirklich überzeugt hat, ist diese bunte und höchst überraschende Zusammenstellung, sie lässt einen bei dieser Ausstellung nicht zum stillen und denkenden Betrachter werden für einen intellektuellen Handjob, nein, sondern zum Erlebenden, zum Indiana Jones der Deichtorhallen. Fast schon wie im Internet fühlt man sich dort, das Angebot ist groß und geht von Texten, Videos, Bildern auch bis hin zu Spielereien.
Kunstwerke werden hier nämlich zwischen Exponaten aus [Natur-]Wissenschaft, Technik, Geschichte, Religion und Unterhaltungsindustrie zu einer großen Familie von Objekten und Sichtweisen zusammengestellt, die sich wie eine Prezi*-Projektion mindmap-artig in alle Gehirnwinde ausstreckt. Und den FLOW des Entdeckens zulässt. Ich kann Stunden dort verbringen, müsste ich nicht zwischendurch was essen. Der erste Besuch mit meinem Dad hat mir nicht gereicht, um alles zu entdecken, was es zu entdecken gab, so begab ich mich mit Jack und meinen heimischen Freunden wieder auf nach Hamburg, um ein weiteres Mal diese Halle zu betreten.
 
(c) bei meinem Vater
Was gibt es alles zu sehen: Tiefseefische, Wunderkugeln, Heilmagnete, Patentpapiere für Wunderkerzen, Lithographien, die Arche Noah, «Turmbau zu Babel»-Gemälde, Spiegel, Pokémonkarten, Fotos von schwebenden Menschen, magische Fetischobjekte von Ureinwohnern, echte Reliquien, ein Spider-Ganesha, unterschiedliche Comics über die Religionsstifter dieser Erde, ein Video in der ein Mann seine Mütze durch eine Rakete verschwinden lässt, eine aramäische Zauberschale, Harry Potter-Zauberstäbe in Hülle und Fülle über den Köpfen schwebend, ein echter Heißluftballon auf dem Boden, eine große leere Kugel, Videos über den Orient, Videos über eine menschliche Kanonenkugel, Kunst, noch mehr Kunst, ein Meteorit, Laterna Magica, Votivbilder, Fotografien von Orten an denen die Heilige Jungfrau Maria erschienen sein soll und die deshalb zu Pilgerorten mutierten, arabische Kunst, wissenschaftliche Kunst, Kaugummi-Skulpturen, psychedelische Wahrnehmungsvideos für die Wissenschaft, Stäbe, ein Video der Sonne, ein Loch, angezogene Riesenkartoffeln, Rabbit Hole [mit Ausschnitten aller erdenklichen Alice in Wonderland-Filminterpretationen], Flugblätter aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert, Trash, Gips-Hände, Paul Nougé, gebogene Uri Geller-Löffel, Ektoplasma-Fotoaufnahmen, eine funktionierende Nebelkammer, Grabtuch-Fotos und Videos der weinenden Madonna-Statue… und noch einiges mehr.
Eine Liste meiner Lieblingsexponate werde ich wohl lieber im Rahmen weiterer einzelner Posts präsentieren, denn, was soll ich schon dazu sagen, es gibt einfach zu viele tolle Dinge mit vielen tollen Fotos.
 
Zu rein faktischen Fakten
Die Deichtorhallen Hamburg befinden sich ganz in der Nähe des Hamburger Hauptbahnhofs, parken lässt sich entweder für Geld auf dem Parkplatz vor Ort, oder mit Risiko auf Autoknack-Diebstahl [ohne Scheiß!] auf einem freien Parkplatz einfach nur hinter dem S-Bahn-Bogen neben den Deichtorhallen.
Garderobe, Klo – check! Laden, wo man teure aber coole Kunstprodukte und viele interessante Bücher kaufen kann – check! Sitzplätze zum Abchillen oder Ausruhen – check! Für Kinder geeignet? Klugerweise sehr wohl – check!
Besucher sollten sich locker 2 bis 3 Stunden Zeit nehmen, und einige Dinge nicht verpassen wie die leere Kugel, in die man sich einsperren lassen kann und wo man das Gefühl der Schwerelosigkeit  bekommen soll [bei zwei Besuchen habe ich es kein einziges Mal dahin geschafft, weil die Schlange davor mir jedes Mal zu lang war]; oder auch lustig sind die interaktiven Videospielereien, wo man [nicht] sehen will, wie das Gesicht eines anderen auf einem klebt.
Kostet 9 € im schlimmsten Falle für Erwachsene, und wenn man Fotos machen will wie ich ohne Blitz, dann fragt man einfach an der Kasse nach, zahlt 2 € drauf und erhält einen coolen grünen Aufkleber, den man sich stolz an die Brust kleben darf.

Zu guter Letzt seht es euch einfach selbst an bis zum 5. Februar 2012, und hier auf der offiziellen Seite:

http://www.deichtorhallen.de/index.php?id=213

Ich kann diese Ausstellung nur wärmstens empfehlen und bin schon auf das nächste Großprojekt in den Deichtorhallen gespannt!

*die bessere Alternative zu Powerpoint

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